Sonntag, 31. Oktober 2010

Angst

Can I hold you one last time?
To fight the feeling, that is growing in my mind.
- One Last Time * The Kooks

- Amy -

Ich wusste, dass ich sterben musste.
Dass wir sterben mussten.
Alles war aus, unsere Leben am Ende.
Und das nur, weil ich die allergrößte Idiotin der Welt war.
Millionen Menschen hatten Probleme und konnten sie lösen.
Aber ich rannte weg. Ausgerechnet in die Arme von Vampiren.
Und wir mussten dafür bezahlen. Mit unseren Leben.
Ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie Seth von diesem Monster fertig gemacht wurde. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen. Es war alles meine Schuld. Wenn ihm jetzt etwas passierte …
Wieder schrie ich. Vor Entsetzen.
Das Blut, das das Fell des sandfarbenen Wolfes dunkelrot färbte brachte mich fast um den Verstand. Wenn er das nicht überlebte …
Doch er kämpfte weiter seinen aussichtslosen Kampf.
Der Mann warf ihn zurück auf den Boden, ich hörte etwas krachen.
Ich nahm kaum noch wahr, dass ich schrie. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich wahrnahm. Es war zu viel. Es war zu grausam. Ich wollte nur noch, dass es endete. Wenn er es nicht schaffte, dann sollten sie mich auch nehmen. Es war meine Schuld. Alles. Es sollte aufhören!
Nach dem nächsten Donnern sah ich verwirrt, dass zwei weitere Wölfe auf der Kuppe erschienen waren.
Ich wusste, dass wieder Hoffnung bestand, dass sie mich retten würden, doch gleichzeitig war meine Angst um sie viel zu groß, um irgendein positives Gefühl überhaupt nur zu spüren.
Der riesige Rostfarbene sprang auf den Mann zu und warf ihn zu Boden.
Der schieferfarbene Wolf warf sich auf die Frau und Seth humpelte ihm hinterher.
Wieder schrie ich auf. Sein Hinterbein zog er in einer seltsam abgespreizten Stellung hinter sich her. Ich sah sofort, dass es gebrochen war.
Ein steinernes Zerreißen mischte sich mit den Geräuschen des Donners und der Schreie. Die der Frau erstarben bald und die beiden Wölfe ließen von ihr ab.
Alles was ich sah, war ein lebloses Stück, eingehüllt in das zerrissene, karierte Hemd.
Im nächsten Augenblick passierten zwei Dinge auf einmal an den Rändern meines Blickfeldes. Auf der einen Seite des Berges erschienen noch mehr Wölfe. Sie waren alle gekommen. Alle gekommen um mich zu beschützen. Ich fühlte mich noch schuldiger als zuvor.
Auf der anderen Seite wurde der große rostfarbene Wolf zwischen die Bäume geschleudert.
Alles passierte so schnell.
Ohne auch nur noch einen Atemzug zu nehmen, sah ich, dass der Vampir vom Boden absprang und sich mit seinen makellosen Zähnen auf mich stürzen wollte. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich wusste, dass es aussichtslos war. Ich wusste, dass es aus war.
Alles was ich in diesem Moment hörte, war das schmerzvolle Wimmern eines großen Tieres und ich wusste, dass es Seth war. Es tat mir alles so leid.
Doch noch während ich auf den harten Aufprall wartete, auf das Ende, darauf, dass mich der kalte Körper zu Boden warf, sah ich, dass von der Seite etwas Graues auf meinen Gegner zugeschossen kam.
Ich erkannte Leah in dem zierlichen Wesen, als sie sich auf den Vampir schmiss. Die anderen waren nah hinter ihr und wieder war das reißende Geräusch zu hören.
Die wutentbrannten Schreie des Mannes erstarben noch vor meinen.
Ich hatte immer noch nicht erfasst, was hier gerade vor sich ging, wusste immer noch nicht, was ich fühlen oder denken sollte.
Ich starrte sie einfach an.
Die Wölfe sammelten auf der ganzen Kuppe helle Teile ein und trugen sie in den Wald.
Leah kam zögernd auf mich zu und senkte ihren Kopf neben mich. Prüfend schaute sie mich an.
„Mit mir ist alles in Ordnung.“ Meine Stimme hörte sich noch immer viel zu hysterisch an und ich sah, dass Leah mir nicht glaubte.
„Wie geht’s Seth?“, fragte ich flüsternd. Ich fühlte mich schuldig und enttäuscht zugleich. Nicht alle Probleme waren gelöst, nichts war in Ordnung, doch seine Gesundheit war mir momentan wichtiger als alles andere. Solange er lebte konnte auch ich es überleben.
Leah stupste mit ihrer Schnauze gegen meine zerrissene Strickjacke und schaute mich sanft fordernd an.
„Klar, hier!“ Ich öffnete den Reißverschluss und legte sie ihr ins Maul. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie von Schlamm und Blut verschmiert war.
Doch Leah nahm sie einfach und lief zwischen die Bäume.
Ich blickte über die freie Fläche, aber meine Augen konnten ihn nicht finden.
Vielleicht war es auch besser so. Er hatte seine Pflicht getan, mir das Leben gerettet. Wollte mich jetzt wahrscheinlich nie wieder sehen.
Geschah mir ganz Recht.
Doch er hatte sich schwerverletzt und egal was passiert war, ich musste wissen, dass es ihm bald wieder besser gehen würde.
Meine Jacke war ihr an den Armen zu kurz, doch Leah kam als Mensch zu mir zurück.
An ihren Beinen hatte sie hellrote Narben, die aussahen als wären sie schon längst verheilt. Auch über ihrem linken Auge erkannte ich eine dünne Linie.
Sie sah mich mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge an.
Leah blieb vor mir stehen, sah mir einen Moment in die tränenden Augen, dann nahm sie mich in ihre heißen Arme.
„Ich hatte solche Angst um dich“, flüsterte sie mir zu. „Du kannst dir nicht vorstellen, was wir durchgemacht haben.“
Ich wusste, dass wir beide weinten. „Es tut mir so leid, Leah, so, so leid!“
„Alles wird gut. Du bist in Sicherheit. Alles ist in Ordnung.“
Doch nichts war in Ordnung. Ob sie sich dessen bewusst war, war mir nicht ganz klar.
Die Welt lag noch immer in Scherben. Meine Welt.
„Wie geht es ihm?“ Ich war froh, dass Leah mich noch immer umarmte. So musste ich ihr nicht ins Gesicht schauen und noch mehr von meinem Schmerz offenbaren. Meine Stimme war schon verräterisch genug.
Leah hatte ihre Tränen wieder im Griff, das Beben in ihrer Stimme war fast verebbt. „Den Umständen entsprechend. Das Bein ist wahrscheinlich gebrochen und wächst gerade so schief zusammen, dass wir es nochmal brechen müssen.“
Ich spürte den Schmerz in meinem Herzen. Alles meine Schuld.
„Die Wunde an seinem Kopf ist schon fast wieder verheilt, aber er hat viel Blut verloren. Mach dir keine Sorgen, Jake und Quil sind mit ihm schon zurück nach La Push. Der Blu- … Carlisle wird sich um ihn kümmern. Es wird ihm bald wieder besser gehen. Kein Grund zur Sorge.“
Ich nickte, doch die Tränen liefen weiter. Unglaublich, wie viele Tränen an einem Tag geweint werden konnten.
„Hey!“ Leah löste sich aus meiner Umarmung und wischte mir die Tränen von der Wange. „Es ist vorbei, Amy. Dir kann nichts mehr passieren.“ Ihre Stimme klang beruhigend, so wie die meiner Mutter, wenn ich als kleines Mädchen gefallen war und mir das Knie aufgeschlagen hatte.
Egal was mit Seth war, den Kontakt zu seiner Schwester würde ich nicht einfach abbrechen können. Dazu hatte ich Leah schon zu sehr in mein Herz geschlossen.
„Kannst du mich zurückbringen?“, fragte ich sie mit noch immer zitternder Stimme. Ich wollte diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.
„Klar, kein Problem.“ Sie versuchte zu Lächeln, doch ich wusste, dass sie gerade sehr besorgt um ihren Bruder war. Fast so sehr wie ich. „Ich bin sofort wieder da.“
Dann verschwand sie wieder zwischen den Bäumen.
Als die zierliche Wölfin neben mir auftauchte, hatte ich fast ein bisschen Angst, ihr weh zu tun. Ich hatte für einen Tag schon genug Schaden angerichtet.
Sie war zwar fast so groß wie die anderen Wölfe, aber bei weitem nicht so kompakt wie ihr Bruder. Doch sie ignorierte mein Zögern und wartete darauf, dass ich mich auf ihren Rücken schwang.
Behutsam nahm ich meine Jacke zwischen ihren Zähnen heraus und streifte sie mir über die Arme. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie von unzähligen roten Linien bedeckt waren, die sich auch kreuz und quer über meine Beine erstreckten. Meine Knie waren aufgeschlagen und meine Sachen mit Schlamm verschmiert. Wie ich das meiner Cousine erklären sollte, war mir noch nicht ganz klar.
Kaum saß ich auf Leahs Rücken, da rannte sie schon los. Sie lief durch den Wald den Berg hinunter und raste dann zwischen den unzähligen Bäumen hindurch, die für mich ein riesiges, undurchschaubares Labyrinth darstellten. Doch Leah schien den Weg zurück nach Forks zu kennen.
Der Wind in meinen Haaren erinnerte mich an die vielen Male, als ich auf dem Rücken eines anderen Wolfes durch die Wälder gelaufen war. Doch ich wischte die Erinnerungen weg, schloss die Augen und vergrub meinen Kopf in Leahs Fell. Ich wollte nicht daran denken. Eigentlich wollte ich an nichts denken. Ich wollte nicht schon wieder weinen.
Leah lief und lief und ich hatte keine Ahnung, wie lange wir schon unterwegs waren, als sie den dämmrigen Wald durchbrach und mit mir in den Nieselregen trat.
Ich wollte abspringen, mich bedanken und von ihr verabschieden, doch dann sah ich, dass wir nicht in Forks waren.
Ich kannte den Ort hier nur zu gut, aber eigentlich wollte ich hier nicht sein. Nicht jetzt.
„Ähm, Leah?“ Sie bedeutete mir von ihrem Rücken zu gleiten und schaute mich mit ihren intelligenten Augen an. „Was .. was soll ich hier?“
Sie nickte zur Tür und stupste mich mit ihrer feuchten Nase an.
„Ich … ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist …“ Ich fühlte mich unwohl bei der Vorstellung ihm jetzt schon gegenüberzutreten. Ich hatte gehofft, dieses Gespräch noch aufschieben zu können, konfliktscheu wie ich war.
Leah zog sanft an meiner Jacke und wieder gab ich sie ihr. Keine zehn Sekunden vergingen und sie stand neben mir.
Ich hatte mich keinen Meter bewegt, hatte einfach nicht den Mut da reinzugehen.
„Amy“, Leah klang wie vorhin. Aufmunternd und tröstend. „Er braucht dich. Bitte mach das alles nicht noch komplizierter als es sowieso schon ist.“
„Leah, ich -“
„Bitte.“ Ich wich ihrem flehenden Blick aus. „Tu’s für ihn.“
Mein Herz schlug wild vor Panik. Ich hatte einfach Angst vor dem, was mir bevorstand. Ich konnte das nicht.
„Bitte.“ Leah blickte zur Tür. Ich schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Dann nickte ich stumm.
„Okay.“
Sie lächelte mir kurz zu und lief dann die Stufen zur Veranda hoch. Noch bevor ich die Treppe erreicht hatte, war sie im Inneren des Hauses verschwunden.
Meine Schritte waren langsam, bedacht. Ich hatte es nicht eilig.
Als ich durch die Tür trat, hörte ich die vielen Stimmen, die scheinbar wild durcheinander redeten.
Leah fragte jemanden darüber aus, wie es ihrem Bruder ging, Jacob berichtete von dem Kampf mit den Vampiren und ich glaubte, Carlisle über Verletzungen reden zu hören.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und blickte mich in dem Raum um, den ich heute Morgen so fluchtartig verlassen hatte. Es kam mir vor, als läge das Alles Jahre zurück.
Der Wohnzimmertisch war an einer Seite eingekracht und auf dem mit Orangensaft getränkten Teppich lagen Scherben. Die dreckigen Teller waren nicht weggeräumt und auch die Decken und Kissen lagen noch unordentlich auf dem Sofa.
Ich schloss die Augen und hielt die Tränen zurück. Das Leben war einfach nicht gerecht.
„Amy!“ Ich schlug die Augen auf und sah Sue auf mich zulaufen. „Amy! Ich bin so froh, dass es dir gut geht!“ Sie nahm mich in ihre Arme ehe ich wusste, was los war. Wenn es möglich war, dann fühlte ich mich jetzt noch schuldiger.
„Ich hatte solche Angst um euch! Gott sei Dank, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist!“
„Es tut mir so leid, Mrs. Clearwater.“ Wieder war meine Stimme nur ein Wispern.
„Alles ist in Ordnung, meine Liebe. Alles wird wieder gut.“
Warum sie nur alle so optimistisch waren. Als ob alles in Ordnung wäre, verdammt! Das war es einfach nicht!
Durch den Flur kamen auch Leah, Quil, Jake, Sam und Carlisle zu uns. Carlisle lächelte uns aufmunternd zu.
„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Das Bein wird gut heilen, aber nur, wenn er sich in den nächsten Tagen etwas schont und sich so wenig wie möglich bewegt.“
„Danke, Dr. Cullen.“ Mrs. Clearwater wirkte wirklich dankbar, wenn auch etwas reserviert.
„Kein Problem, wirklich.“ Carlisle durchquerte den Raum, blieb aber neben mir stehen und schaute mich prüfend an. „Und mit dir ist alles soweit in Ordnung? Irgendwelche Schmerzen?“
Nur die in meinem Herzen, dachte ich und war froh, dass er nicht die Gabe seines Sohnes hatte.
„Nein. Mir geht’s gut.“
„Okay. Also, wenn noch irgendwas sein sollte, ruft einfach an. Ich komme Morgen nochmal vorbei und schau mir an, ob das Bein gut verheilt.“
Dann nickte er noch einmal, bevor er in den Nieselregen verschwand.
Auch Sam, Quil und Jake schienen sich aus dem Staub machen zu wollen.
„Wir kommen nachher nochmal vorbei, Sue“, sagte Sam und verließ den Raum mit gesenktem Blick. Quil stützte den humpelnden Jake, der bis auf den geschwollenen Fuß schon wieder ganz der alte war.
Er zwinkerte mir locker zu und folgte Sam zur Tür hinaus.
Leah blickte ihren Brüdern gedankenverloren hinterher und warf mir dann einen schnellen und entschuldigenden Blick zu.
„Tut mir leid“, sagte sie hastig, „ich glaube, ich sollte lieber mal mitgehen. Ihr könnt mich hier jetzt sowieso nicht gebrauchen. Wir sehn uns, Amy.“
Und dann war auch sie verschwunden und ließ mich mit Sue allein. Gemeines Pack.
„Du solltest bei ihm gucken“, sagte Sue lächelnd und verschwand in die Küche.
Ganz allein und mit rasendem Herzen ging ich Stück für Stück durch den Raum und näherte mich dem Flur.
Durch das Fenster am anderen Ende des langen, holzvertäfelten Ganges drang das dämmrige Licht des späten Nachmittages.
Mein Herz fing an zu rasen und ich bekam wieder Panik. Die Angst wurde mit jedem Schritt größer, den ich auf die Tür am anderen Ende des Flures zuging. Wovor genau ich Angst hatte, wusste ich selbst nicht so genau, aber es war wie das Gefühl, wenn man einen harten Schlag gegen die Rippen bekommen hatte. Wenn man große Schmerzen litt und sich das Herz zusammenzog. Ich hatte einfach Angst.
Neben seiner Tür lehnte ich mich gegen die Wand, schloss noch einmal die Augen und atmete tief durch. Ich würde das überstehen. Ich würde es überleben. Alles würde seinen Lauf nehmen.
Mit zitternden Händen klopfte ich gegen seine Tür.
„Ja?“ Seine Stimme, die Stimme für die ich wahrscheinlich alles tun würde, auch wenn sie mir das Herz brach. Sie klang ein bisschen aufgeregt, ich kannte sie zu gut.
Zögernd drückte ich die Klinke nach unten und ging ins Zimmer.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen