Sonntag, 31. Oktober 2010

Legenden und Wirklichkeit

Es gab so vieles auf der Welt, wovon sie nichts wusste.
- Philip Pullmann, Der goldene Kompass


- Amy -

„Ich hab dich vermisst“, murmelte ich und zog ihn noch näher an mich heran.
„Du weißt nicht, wie sehr ich dich!“, flüsterte Seth mir zärtlich ins Haar.
Seine Wärme umgab mich angenehm warm und ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Und er mich anscheinend auch nicht. Ich hörte sein Herz heftig schlagen und er umarmte mich noch fester.
Den Kopf gegen seine starke, harte Brust gelehnt hörte ich ihn irgendwann anfangen, zu reden.
„Amy“ Ich liebte die Art, wie er meinen Name aussprach.
„Hmm?“
„Amy, ich muss mit dir Reden.“
Ich hob den Kopf und schaute ihn an. Sein wunderschönes Gesicht sah nervös und angespannt aus. Trotzdem versuchte er zu lächeln.
Ich verzog das Gesicht. „Was Ernstes?“
Er grinste verlegen und blickte nach unten. „Schon …“
„Was Schlimmes?“ Jetzt hatte er meine Neugier geweckt.
Das Lächeln verschwand und er presste die Lippen zusammen. „Wir werden sehen.“ Dann machte er einen Schritt zurück und nahm meine Hand.
Besorgt blickte ich ihn an. Seth versuchte zu lächeln und wollte wieder gute Laune vortäuschen, doch als er meinen prüfenden Blick sah, guckte er wieder ernster.
„Du wirst es schon erfahren, Amy. Ich will nur von den ganzen Menschen weg.“ Er nahm die Augen von mir und schaute auf die Touristen, die überall um uns herum lagen und uns neugierig musterten.
Ich nickte und ließ mich von ihm sanft durch die Menge ziehen.
Für den schönen Pazifikstrand hatte ich keine Augen, aber der Ausblick auf das scheinbar unendliche Meer und die kleinen Inseln vor der Küste entging mir trotzdem nicht ganz. Ich musste unbedingt noch ein paar Tage mit Seth am Meer, hier am Strand, verbringen.
Ich schaute ihn wieder an, diesmal beängstigt.
Wenn er mir jetzt aber sagte, dass er nicht mit mir zusammen sein konnte? Wenn er mich nicht wollte? Wohnte ich ihm zu weit weg? Hatte er schon eine Freundin? Oder mochte seine Familie mich nicht?
Plötzlich blieb er stehen. Wir hatten die Touristen hinter uns gelassen und das Ende des Strandes fast erreicht. Hier im Schatten der Klippen und des Waldes war es etwas kühler, als in der Sonne, aber dank Seths Wärme war mir nicht kalt.
Vor uns lag ein angespülter Treibholzstamm. Seth setzte sich und zog mich neben sich. Er schaute mich wieder angespannt an und schien zu überlegen, wo er anfangen sollte. Ich wurde immer nervöser und platzte schließlich mit meinen schlimmsten Befürchtungen heraus.
„Du willst mich nicht, stimmt’s? Du willst nichts mehr von mir wissen! Ich wusste es! Ich hab’s gewusst!“ Ich rang mit den Tränen. Es war mir die ganze Zeit klar gewesen. Was wollte jemand so wunderbares wie Seth mit einem Mädchen, wie mir? Ich wollte wirklich nicht schlecht von ihm denken, aber ich fragte mich, ob er mich gestern Abend nur benutzt hatte. Aber konnte er so gut schauspielern? Waren all die Blicke und Küsse so falsch gewesen?
„Du … was? Sag mal, für was für einen Typen hälst du mich? Glaubst du wirklich ich – Hey! Wein doch nicht!“
Ich spürte seine heißen Finger über meine nassen Wangen streichen. Er nahm mich wieder in den Arm, aber meine Tränen liefen weiter. Es war so entwürdigend, aber ich hatte vor Zurückweisungen und dem Verlieren geliebter Personen schon immer eine Heidenangst gehabt. Die Angst und Eifersucht überkamen mich in solchen Situationen einfach immer. Die Erleichterung, seine Bestürzung über meine Annahme – das machte mir neue Hoffnung. Trotzdem, und vielleicht gerade deswegen, kamen die Tränen. Ich konnte nichts dagegen tun. Noch schlimmer, dass er mich jetzt so sehen musste.
„Hey. Alles wird gut, Amy. Hör mir zu, alles ist in Ordnung.“ Er hob meinen Kopf, den ich in seinem T-Shirt vergraben hatte und wischte mir wieder die Tränen aus dem Gesicht. Er schaute mich ernst an und sagte – und seine Worte klangen ganz ehrlich - : „Ich werde dich nicht verlassen. Nie. Außer, du willst es. Ich mag dich mehr, als du dir vorstellen kannst und kann jetzt schon nicht mehr ohne dich leben. Ich muss dir erklären, warum ich dich nicht einmal verlassen könnte, wenn ich wollte. Aber bitte, bitte verurteil mich nicht deswegen. Ich hab auf nichts davon einen Einfluss gehabt, noch habe ich einen auf deine Reaktion oder deine Meinung über mich, wenn ich fertig bin. Aber bitte versprich mir, dir alles anzuhören und mir zu glauben, dass ich dich auch trotzdem genauso sehr lieben würde, wenn es anders wäre.“
Er hatte schnell gesprochen, es war aus ihm herausgesprudelt. Ich hatte zwar keine Probleme mit den Wörtern an sich, aber mit ihrer Bedeutung.
Er liebte mich. Das hatte ich verstanden. Das er mich nicht verlassen wollte auch. Und es ließ mein Innerstes vor Freude toben. Blöde Schmetterlinge!
Aber warum sollte ich ihn verurteilen?
Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Wangen und schaute ihn fragend an. „Ich werde dich nicht verurteilen“, versprach ich ihm mit brüchiger Stimme.
Seth schaute mich immer noch verunsichert an. Dann nickte er leicht und holte tief Luft. Mit gesenktem Kopf begann er zu erzählen.
„Ich bin nicht das, wofür du mich hälst, Amy. Ich bin kein … Mensch.“ Er starrte auf die Steine zu seinen Füßen. Sein Gesicht hatte einen ernsten und traurigen Ausdruck. Ich musste genauso verwirrt aussehen, wie ich mich fühlte. Seth war kein Mensch?
„Ich … Mein Stamm … Wir sind … Ach, Verdammt!“ Er gab ein verstört klingendes, angespanntes Lachen von sich, bevor er mich endlich anblickte. „Wir sind Mischwesen. Gestaltenwandler. Halb Mensch, Halb Wolf.“
Ich merkte, wie sich mein Mund langsam öffnete.
„Wolf?“, fragte ich mit erstickter Stimme.
Seth zog die Augenbrauen zusammen und blickte aufs Meer. „Ja, Wölfe. Unsere … unsere Vorfahren hatten einst die Gabe, sich in Geisterkrieger zu verwandeln. Sie verließen ihre Körper, um ihren Stamm zu beschützen. Sie vertrieben ihre Feinde, wenn es nötig war, und lebten lange Zeit friedlich zusammen. Nach vielen Generationen führte der letzte Geisterhäuptling unseren Stamm an. Taha Aki. Er war ein weiser und friedliebender Mann, der nur das Beste für sein Volk wollte. Alle waren zufrieden – bis auf einen. Utlapa war einer der stärksten Geisterkrieger und er strebte nach Macht. Er war der Meinung, die Krieger sollten ihre magische Gabe dazu einsetzten, die befreundeten Stämme anzugreifen und zu unterwerfen.
Da sie als Geisterkrieger die Gedanken der anderen lesen konnten, erfuhr Taha Aki von Utlapas Plänen und befahl ihm, das Volk zu verlassen. Utlapa wollte Rache.
Er wusste, dass Taha Aki auch zu Friedenszeiten seine Körper zurückließ und als Geist durch die Wälder streifte, auf der Suche nach möglichen Bedrohungen.
Eines Tages folgte er Taha Aki zu seinem Versteck, in dem er seinen, dann leblosen Körper, zurückließ und in die Geisterwelt eintrat. In dem Moment, als auch Utlapa diese Welt betrat, erfuhr Taha Aki von dessen grausamem Plan und eilte zurück. Doch Utlapa war schneller. Er hatte sich in Taha Akis Körper zurückverwandelt und seinem eigenen Körper die Kehle durchgeschnitten.
Taha Aki hatte keine Möglichkeit, wieder in die normale Welt einzutreten und musste mit ansehen, wie Utlapa seinen Platz einnahm.
Utlapa versuchte nicht aufzufallen und so wie Taha Aki zu handeln. Doch nach einiger Zeit verbot er seinen Kriegern, die Geisterwelt zu betreten, aus Angst, Taha Aki könnte ihnen die Wahrheit erzählen und zurückkehren. Er wurde aufsässiger und verschaffte sich Vorteile. Utlapa genoss seine Macht im Stamm.
Taha Aki verzweifelte in seiner Körperlosigkeit immer mehr. Es war eine Qual für ihn, so lange in der Geisterwelt gefangen zu sein. Auch Utlapas Verhalten konnte er nicht länger ertragen und schließlich holte er einen großen, wilden Wolf aus den Bergen, um Utlapa zu töten.
Utlapa jedoch, versteckte sich, der Wolf tötete einen jungen Krieger und Taha Aki war so traurig darüber, dass er das schöne Tier wegschickte. Doch es wollte nicht zurück und blieb bei Taha Aki.
Dieser empfand Neid, denn der Wolf hatte wenigstens einen Körper; ein Leben. Er kam auf die Idee, die uns alle veränderte und bat den Wolf, ihm Platz zu machen und sich den Körper zu teilen. Der Wolf war einverstanden und so trat Taha Aki dankbar in den Wolfskörper ein.
Er kehrte zurück ins Dorf und die Krieger merkten schnell, dass es sich bei dem Tier um kein Gewöhnliches handelte. Einer von ihnen betrat die Geisterwelt und auch Taha Aki tat es, um ihm die Wahrheit zu offenbaren. Utlapa bemerkte den leblosen Körper und tötete den Mann sofort, als er wieder zum Menschen wurde.
Taha Aki, der wieder zu dem Wolf zurückgekehrt war, war so wütend, dass dieses menschliche Gefühl den Wolf sprengte und er sich in den fleischgewordenen Geist von Taha Aki verwandelte.
Die Krieger erkannten ihn und Utlapa floh. Doch Taha Aki, der immer noch die Eigenschaften des starken Wolfes in sich trug, fand und tötete ihn.
Das Volk jubelte und Taha Aki stellte die alte Ordnung wieder her. Aber das Verbot, die Geisterwelt zu betreten, behielt er bei, da so ein Vorfall nicht nochmal passieren sollte.
Wenn Gefahr drohte, verwandelte Taha Aki sich in den Wolf. Er beschütze sein Volk viele Jahre, denn er alterte nicht.
Auch einige seiner Nachfahren hatten die Gabe, sich in Geisterwölfe zu verwandeln, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hatten. Auch ich bin einer seiner Nachfahren.“
Seth machte eine Pause und sah mich vorsichtig an. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen oder von ihm und seinem Stamm denken sollte. Aber mir war klar, dass es stimmte. Ich spürte es.
Als Seth merkte, dass ich noch nicht in der Lage war, mit ihm zu sprechen, redete er weiter. „ Die heiße Haut und die außergewöhnliche Größe – das sind sozusagen Begleiterscheinungen. Glaub mir, Amy, ich hatte selbst keine Ahnung und manchmal wünschte ich echt, ich wäre ganz normal. Es ist … Wenn man rennt und als Rudel fühlt und denkt, wenn man alles riechen und hören kann, wenn man die anderen beschützen kann – das ist etwas ganz besonderes. Es liegt einfach bei uns im Blut. Und manchmal – so verrückt sich das auch anhören mag – manchmal bin wirklich stolz darauf, anders zu sein.“ Er lächelte kurz und schaute dann wieder nervös in meine Richtung.
Mit dem Gefühl, meine Sprache wiedergefunden zu haben, öffnete ich den Mund. „Wie …?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Die Verwandlung?“ Ich nickte.
„Man muss sich sehr stark konzentrieren. Am Anfang war es noch ziemlich schwer und wenn man sich nicht unter Kontrolle hatte, konnte es einem immer und überall passieren, wenn man nur leicht gereizt wurde. Aber man lernt, es zu kontrollieren und sich zu beherrschen.“
Langsam erholte ich mich von meinem ersten Schock und wurde neugierig. „Wie ist das so – als Wolf?“
Seth schien über mein wachsendes Interesse erleichtert und lächelte mich schüchtern an. „Das ist schwer zu erklären. Einerseits ist es etwas völlig anderes, weil du auf vier Pfoten in einem riesigen Körper unterwegs bist. Du siehst die Welt in einem komplett anderen Licht und durch die geschärften Sinne bekommst du so viel mehr mit, als in deinem Menschenkörper. Andererseits ist es trotzdem noch ein sehr menschliches Gefühl, besonders, wenn man als Rudel unterwegs ist.“
„Warum?“
„Das ist vielleicht noch abgefahrener als das Wolfszeug an sich.“ Er blickte leicht verlegen und lachte. „Wir können die Gedanken der anderen lesen. Nein, warte. Lesen ist der falsche Ausdruck. Wir können sie hören. Auf diese Weise können wir in Kontakt bleiben. Es ist ein bisschen, wie in einem Chatroom.“ Wieder lachte er. „Manchmal reden alle durcheinander und es ist ganz schön nervig, dass die anderen all deine Geheimnisse kennen. Aber es kann auch sehr nützlich sein, um sich abzustimmen, wenn Gefahr droht oder es andere wichtige Dinge zu bereden gibt. Weißt du, es hat keine Ortsbegrenzung. Der eine kann in Alaska sein, der andere in Mexico und sie hören sich immer noch klar und deutlich. Das ist echt praktisch.“
Jetzt hatte Seth meine Neugier mit seinen Wolfsgeschichten über sein wahres Ich komplett entflammt. So seltsam, unglaublich und phantastisch das auch alles klang, ich ließ mich nicht abschrecken. Ich wurde eher noch mehr von ihm verzaubert.
„Wie viele seid ihr?“
„Viel zu viele.“ Er hielt kurz Inne. „Aktuell sind wir 18 Wöl-“
„18?“ Ich riss die Augen auf. Mit so vielen hatte ich nicht gerechnet!
Er nickte entschuldigend. „Wir haben zwei Rudel. Das von Jacob, zu dem ich gehöre, und Sams. Sam war der erste Wolf und ist der Älteste. Der … der gestern Abend neben Emily gesessen hat, dem Mädchen mit den Narben. Sie ist meine Großcousine.“ Meine Augen wurden noch größer. „ Sam hat die jüngsten Wölfe unter seinen Fittichen und auch einige der Älteren. Letzten Sommer hat sich dann noch Jakes Rudel gebildet. Wir sind jetzt zu siebt. Aber wenn man die Ältesten und Geprägten noch mitzählt …“ Er verstummte und seine Miene, die eben noch so glücklich über mein Interesse gewirkt hatte, wurde jetzt wieder bedrückter.
„Geprägte?“, fragte ich zögernd.
„Das -“ Seth wirkte wieder unsicherer und senkte den Blick. „Das ist das andere, über das ich mit dir reden wollte. Reden muss.“ Er holte wieder tief Luft.
„Anfangs hielten wir auch die Prägung für einen Mythos, eine Legende. Doch als es mehreren von uns passierte, sahen wir, dass es nicht einmal so selten war, wie wir gedacht hatten.“ Erneut stockte er.
„Prägung ist etwas – wie Liebe auf den ersten Blick, nur um ein Vielfaches stärker. Wenn man diese eine, ganz bestimmte Person gefunden und gesehen hat … Man kann nichts mehr dagegen machen. Man wird von ihr magisch angezogen und kann nicht mehr ohne sie leben. Man braucht sie. Und alles was man will ist, dass es ihr gut geht und sie glücklich ist.“ Er schaute mich wieder an, sein Blick war unergründlich. „ Ich wollte es nicht wirklich glauben – bis gestern Abend.“ Dann presste er die Lippen zusammen und wartete auf meine Reaktion.
Gestern Abend. Er. Ich. Prägung? Was? Meine Gedanken überschlugen sich, aber ich kam trotzdem zu keinem Ergebnis.
Nach einer halben Ewigkeit brachte ich wieder einige Worte zustande, wenn auch noch keine ganzen Sätze. Ich selbst hörte mir an, wie ungläubig meine Stimme klang. „Du … du … auf MICH?“
Er biss sich auf die Lippe. „Es tut mir leid.“
„Es tut dir leid?“ Klar. Wer würde es nicht bereuen? Bei jemandem wie mir? Ich spürte schon wieder die Tränen in meine Augen steigen.
„Nein! Nicht so, Amy! Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich dich genauso sehr lieben würde, wenn das nicht passiert wäre! Ganz ehrlich! Du bist die wunderbarste, netteste, allerschönste Person, die ich je kennengelernt habe! Es tut mir leid, dass das mit uns nicht ganz normal laufen konnte. Dieses Prägungszeug – ich hab da keinen Einfluss drauf! Ich will nicht, dass du denkst, dass ich dich nur deshalb mag!“
Jetzt hatte sein Blick etwas Flehendes. Er hatte gesagt, ich solle ihn nicht verurteilen. Diese Bitte sah ich jetzt wieder in seinem Gesicht. Ich verurteilte ihn nicht. Für nichts, was er mir erzählt hatte. Klar, ich war verwirrt, ein bisschen geschockt – aber ich würde ihn NIE dafür verurteilen, was er war. Er hatte ja keinen Einfluss darauf, wie er gesagt hatte. Und ich konnte auch nichts daran ändern. Also musste ich mich mit der Situation zufrieden geben und damit leben. Und mit ihm. Ich lächelte vor mich hin. Er würde mich nicht verlassen – außer …
„Kann man sich ‚umprägen‘?“
Seth sah mich erst irritiert an, dann fing er an zu grinsen.
„Nein. Das geht nicht.“
„Gut.“ Ich erwiderte sein Grinsen.
„Du bist nicht sauer?“ Seth Stimme klang trotz des Grinsens zaghaft.
„Warum sollte ich? Ich kann doch sowieso nichts ändern, oder? Ich mein, ich werd damit zurecht kommen müssen, und solange du mich nicht verlässt …“
„Niemals.“
Und dann war ich wieder in seinen Armen. Seine Wärme hüllte mich angenehm ein und seine heißen Lippen pressten sich sanft auf meine. Mein Herz stockte und schlug dann mit doppelter Geschwindigkeit weiter. Sein Atem vernebelte meine Sinne. Irgendwann löste er sich zärtlich von mir und entfernte sein Gesicht ein kleines bisschen von meinem. Seine Augen glühten vor Glück. „Ich freu mich so, Amy. Wirklich. Ich hätte nie gedacht, dass du so wenige Probleme mit der ganzen Sache hast. Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich für ein Monster halten und nie wiedersehen wollen.“
Ein Schauder durchfuhr mich, als ich wieder an den Vormittag dachte. Das Wolfsgeheul, Angelas Bericht von Riesenwölfen, die Toten und jetzt Seths Geständnis – war er gefährlich? Konnte es sein, dass er ein Mörder war? Ein Monster? Aber hatte er eben nicht von Beschützen gesprochen?
Ich runzelte die Stirn. Seth hatte seinen Kopf auf meinen gelegt und ich spürte, wie er langsam ruhiger wurde.
„Seth?“ Ich lehnte mich ein Stück zurück um ihn wieder anblicken zu können. „Du hast von euch als Beschützern geredet. Nun ja, Angela hat mir heute Morgen von mordenden Wölfen erzählt, die …“
„Nein. Nein. Nein! Das waren wir nicht. Wir haben dafür gesorgt, dass es aufhört. Wir haben euch vor ihnen beschützt.“
„Ihnen?“ Ich hob die Augenbrauen.
Seth lächelte wieder beschämt. Ich liebte diesen verlegenen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Wir Wölfe sind nicht die einzigen magischen Wesen, die hier ihr Unwesen treiben.“
Gespannt wartend blickte ich ihn an, bis er endlich weitersprach.
„Vampire. Sie sind unsre einzigen Feinde und es ist unsere Aufgabe, die Menschen vor ihnen zu beschützen.“
Vampire? War ich hier in einem Horrorfilm gelandet? Verliebte Menschenwölfe - okay, konnte man sich gefallen lassen. Aber Vampire?
„Nicht alle sind böse!“, warf Seth schnell ein. Ich versuchte meine Gesichtszüge zu kontrollieren.
„Es gibt auch Vampire, die sich von Tierblut ernähren und friedlich unter Menschen leben, so wie die Cullens.“ Okay. Vorbei. Versuch gescheitert. Die Kontrolle über meine Gesichtszüge hatte ich jetzt komplett verloren.
Die Cullens? Vampire? Die kleine, nette Alice? Bluttrinker? Bella und Edward, die liebevollsten Eltern, die man sich vorstellen konnte – Lebewesen leersaugende Monster? Nie und nimmer …
Ich versuchte, mir Esme beim Morden vorzustellen – vergeblich.
„Hör zu Amy, sie sind nicht so, wie du vielleicht denkst. Sie greifen keine Menschen an.“
„Aber eben hast du doch gesagt …“
„Ich habe nur gesagt, dass Menschen von Vampiren angegriffen wurden, aber die Cullens anders sind und Tierblut trinken.“
„Vampire?“ Der Schock saß immer noch tief in meinen Gliedern. Konnte es sein, dass es – wirklich und wahrhaftig – in dieser Welt Vampire gab? Oder auch Mischwesen, wie Seth?
Seth nickte und ich hatte das Gefühl, er bestätigte damit auch meine ungläubigen Gedanken. „Ich kann dir das alles erklären. Sie haben sich von ihrer herkömmlichen Lebensweise abgewandt und gelernt, dem Geruch menschlichen Blutes zu wiederstehen. Sie wären nie in der Lage, jemanden umzubringen. Okay, vielleicht schon. Sie würden wahrscheinlich sogar Angreifer töten, um ihre Familie zu beschützen. Aber darum geht’s nicht.“ Sie waren in der Lage zu töten. Wieder schauderte ich. „Sie leben schon jahrelang friedlich in unserer Mitte, unentdeckt, ohne einen Menschen angegriffen zu haben. Sie hielten sich für Monster, die sie nicht sein wollten. Carlisle, der Älteste, war der Erste, der dem Blut entsagte. Heute arbeitet er als hervorragender Chirurg im Krankenhaus.“ Seth grinste. Ein Vampir im Krankenhaus? Menschen operieren? Wo war ich hier nur gelandet? Wie alt er war, wollte ich gar nicht erst fragen.
„Wir könnten sie besuchen, wenn du willst. Morgen vielleicht.“ Ich konnte nur nicken. Ersten, war ich immer noch zu verwirrt von all den magischen Wesen, die um mich herum angeblich lebten, und zweitens konnte ich ihm, mit diesem herzzerreißenden Lächeln und dem erwartungsvollen Blick, nichts abschlagen.
Dann sah ich etwas in seinen Augen aufblitzen. „Soll ich dich den anderen nochmal vorstellen? Ich weiß, du kennst sie schon von gestern, aber so richtig, jetzt, wo du Bescheid weißt?“
Ich versuchte zu lächeln, ob es mir gelang, konnte ich nicht sagen. „Gerne.“ Dann kam mir noch eine andere Idee. „Darf ich dich mal sehen?“
„Ich sitz direkt vor dir, du …“ Das Lachen verschwand schlagartig aus seinem Gesicht und formte sich zu etwas zögerndem, angstvollem. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Er sah mich entschuldigend und zweifelnd an.
Darauf versuchte ich, bittend aus zu sehn. Und es schien zu funktionieren. Seth blickte wieder aufs Meer und überlegte.
Wie viel Zeit verging, war schwer zu sagen, aber nach einer Weile stand er auf und nahm meine Hand. Er hatte wieder diesen vorsichtigen Ausdruck von vorhin, aber ich lächelte ihn an. Obwohl ich nicht genau wusste, warum, freute ich mich. Ich wollte ihn in seinem anderen Körper sehen. Oder nicht? Kurz überkamen mich die Zweifel und das Gefühl, eigentlich Angst haben zu müssen, aber dann sagte ich mir wieder, dass es Seth war. Er würde mir nichts tun. Selbst nicht als Wolf.
Wir kletterten zwischen den Farnen hindurch, überquerten die Straße und gingen in den dichter werdenden Wald. Seth schien immer noch in seinen Gedanken versunken zu sein, als er plötzlich stehen blieb.
Der Wald war hier schon viel dunkler und wir waren von hohen Fichten und Douglasien umgeben. Ihr Geruch umgab uns. Es roch sehr stark nach Wald für jemanden, der aus einer Großstadt kam. Zu sehr.
„Du willst das wirklich sehen?“, fragte er mich. Wieder konnte ich nur nicken. Wenn er mich noch länger so anschaute, würden die Angstgefühle wieder zurückkommen und das wollte ich nicht.
Seth nickte noch einmal kurz, dann fing er an, seine Sachen auszuziehen. Er reichte mir sein T-Shirt und seine Hose. Erst jetzt fiel mir auf, dass er barfuß war. Er wandte mir den Rücken zu, ging ein paar Meter zurück und sagte mir, ich solle auch noch ein bisschen zurückgehen. Mit seinen Sachen in den Händen wich ich zwei Meter zurück und lehnte mich gegen einen dicken Stamm. Als Seth stehen blieb, roch ich schnell an seinen Sachen, ohne den Blick von seinem Rücken zu wenden. Er roch sooo gut!
Dann hörte ich ihn rufen. „Pass auf dich auf, Amy! Wenn irgendwas sein sollte, renn weg, so schnell du kannst!“ Er blickte noch einmal über seine Schulter und sah mich sorgenvoll an. Wieder nickte ich.
Und dann ging alles ganz schnell. In dem einen Moment noch, stand Seth vor mir im Wald und keine Sekunde später war er weg. Es gab ein zerreißendes Geräusch und urplötzlich sah ich einen riesigen, sandfarbenen Fellklumpen vor mir. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, ging ich auf ihn zu.
Seth war mindestens genauso schön, wie als Mensch. Sein Fell sah so weich aus, dass ich unbedingt hinein fassen wollte. Aber als ich noch drei Meter von ihm entfernt war, drehte er sich um und ich erkannte wieder den sorgenvollen und zögernden Blick. Aber diesmal aus Tennisballgroßen, dunklen Hundeaugen. Wolfsaugen.
Es war so seltsam. Ich kannte diesen Blick. Er sah genauso aus, wie der, denn ich kannte. Seth. Aber als riesengroßer Wolf.
Ich hatte keine Angst vor ihm. Ich wollte ihn eher streicheln, in das dichte Fell fassen. Ohne Scheu ging ich langsam weiter auf ihn zu. Seths Miene entspannte sich mehr und mehr und als ich kurz vor ihm stand, erkannte ich mein geliebtes, verlegenes Lächeln. Er war immer noch er selbst. Nur in einer anderen Form.
Ich streckte meine Hand aus und er beugte seinen Kopf zu mir hinunter. Sein Fell war noch so viel weicher, als ich gedacht hatte. Behutsam strichen meine Finger über seinen Kopf. Seth schloss die Augen und jaulte leise auf. Sein Mund wurde von einem Lächeln umspielt und ich ging langsam an seinem Kopf vorbei. Meine Hände waren dicht in seinen Seiten vergraben und ich lehnte mich gegen ihn. Er fühlte sich noch heißer an, als er es als Mensch war. Seth blieb still stehen, während ich ihn von allen Seiten betrachtete und berührte, und schien meine offene Art zu genießen.
Nach einigen Minuten stand ich wieder vor ihm, schaute ihm in die Augen und kraulte mit meinen Fingern das Fell hinter seinem Ohr. Er knurrte leise vor sich hin, aber nicht bedrohlich. Mir war eben noch eine Idee gekommen und ich wollte ihn danach fragen. Dass er wieder so sorgenvoll blicken würde, war meine größte Angst. Ich wollte ihn nicht zu irgendwas drängen, was er nicht wollte. Aber die Versuchung war zu groß.
„Seth?“, fragte ich leise und blickte immer noch in die Wolfsaugen.
Das muntere Grinsen war noch nicht verschwunden. Es wurde noch breiter. Erwartungsvoll schaute er mich an.
Verlegen grinsend sprach ich weiter. „Darf ... ähm ... also, könnte ich vielleicht mal … auf deinen Rücken?“
Es hörte sich so an, also ob er lachen würde und ich schaute ihn unsicher an. Dann warf Seth seinen Kopf leicht nach hinten und bedeutete mir, aufzusteigen. Ich schlang meine Arme um den Wolfskopf, küsste ihn in sein Fell und lief ein Stück zurück.
Seth setzte sich in Bewegung und blieb neben einer umgestürzten Buche stehen. Seine Schritte waren trotz des riesigen Körpers elegant und ich hatte Probleme, Schritt zu halten.
Hastig kletterte ich auf einen alten Ast und sprang dann auf seinen Rücken. Fast fiel ich wieder runter, doch ich fand in seinem dicken Fell halt und klammerte mich fest. Ihm schien das nichts auszumachen, auch nicht, als ich mich endlich in Position gebracht hatte und mich nach vorne lehnte, um wieder seinen Kopf zu berühren.
Seth bellte einmal kurz, dann lief er langsam los.

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