Sonntag, 31. Oktober 2010

Ein verhängnisvoller Plan

It's obvious that you're dying, dying
- Fences * Paramore


- Amy -

Im Wald war es trocken. Noch.
Hier tobte das Unwetter noch nicht, doch es würde kommen, da war ich sicher.
Es war sonderbar ruhig. Weder Tiere im Wald, noch Vögel in der Ferne waren zu hören. Nicht einmal ein Rauschen der Blätter. Der Wind schwieg, sammelte Kraft für seinen nächsten Angriff.
Die einzigen Geräusche waren meine immer noch viel zu hektische Atmung, die von einem Schluchzen begleitet wurde, und das Rascheln und Knicken der Blätter und Zweige unter meinen stolpernden Füßen.
Es war eine dumme Idee gewesen, einfach aus La Push wegzurennen.
Mit etwas Abstand betrachtet wahrscheinlich eine totale Überreaktion.
Doch ich konnte es nicht mit Abstand betrachten, wollte gar nicht darüber nachdenken.
Dazu tat es zu weh.
Ich spürte eine neue Welle von Tränen aus meinen Augen herausbrechen.
So verdammt weh.
Es war auch eine dumme Idee gewesen, einfach mitten im Wald auszusteigen. Eine sehr dumme Idee.
Ich hatte nicht nur überhaupt keine Ahnung, wo in dem immergrünen Dschungel des Regenwaldes von Olympia ich mich befand, nein, es stand auch noch Teil zwei des großen Unwetters bevor.
Mutterseelenallein im schier endlosen Wald.
Ich hätte mich für diesen Plan ohrfeigen können.
Aber was tat man nicht alles, um den neugierigen Blicken und Fragen einer Truckfahrerin zu entgehen, wenn einem gerade das Herz gebrochen wurde?
Sie hatte mich ziemlich schräg angeschaut, als ich darauf bestand mitten im Wald auszusteigen. Sie bot an, mich nach Port Angeles oder Seattle mitzunehmen, aber ich lehnte dankend ab. Länger hätte ich es mit ihrer Gute-Laune-Countrymusik nicht ausgehalten.
Sie sah aus, als hielte sie mich für eine Geisteskranke, als ich die Beifahrertür hinter mir zuschlug und auf den – noch trockenen – Waldboden sprang.
Doch sie war mir egal. Wahrscheinlich würde ich sie eh nie wieder sehen.
Also stolperte ich erst mal eine Zeit lang vollkommen planlos durch den Wald und verirrte mich immer mehr in dem smaragdenen Labyrinth.
Auch die dumpfe Angst, nie wieder hinauszufinden, ignorierte ich.
Ich fühlte mich betäubt, wie in Trance.
Sollte doch passieren was wollte.
Also beging ich einen weiteren Fehler. Ich wich vom Pfad ab und bahnte mir meinen Weg durch das Unterholz.
Ich war hoffnungslos verloren, doch ich würde weiterlaufen.
Weiterlaufen, bis meine Füße nachgaben, bis ich hinausgefunden, bis ich alles vergessen hätte.
Ich kniff die Augen zusammen, um die Gedanken davon abzulenken.
Ich durfte nicht darüber nachdenken.
Aber Augen zusammenkneifen eine miese Idee, wenn man durch Farne und über Wurzeln stolperte.
Ich öffnete die Augen im Fallen, streckte instinktiv meine Hände aus, um mich abzufedern.
Mit den Armen streifte ich einen Dornenbusch, dann landete ich auf dem harten Boden. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich.
Keuchend rollte ich mich auf den Rücken und starrte zum Himmel.
Zwischen den Baumkronen konnte ich nur kleine Stücke erahnen, doch es reichte um zu sehen, dass der Sturm nicht mehr weit entfernt war.
Wieder schloss ich die Augen.
Ich würde zurückgehen und mit ihm reden müssen. Oder wenigstens zurückgehen.
Das mit ihm reden würde ich so lange wie möglich hinauszögern, ich kannte mich zu gut, um mir da anderes klar zu machen. Ich war nicht der Mensch für direkte Konfrontationen. Ich rannte lieber weg, als mich der Wahrheit oder Streitigkeiten zu stellen. Ich vermied es so gut es ging.
Ich hasste es, von Menschen enttäuscht zu werden. Wenn Menschen wegen mir enttäuscht waren. Wenn sie mir wehtaten mit ihren Worten.
Ich war kein Mensch für Kritik jeglicher Art.
Und er hatte mir wehgetan. Mich enttäuscht.
Doch es änderte nichts daran, dass ich mich ihm früher oder später stellen musste.
Ihm und Valeria.
Über sie wollte ich gar nicht erst nachdenken, mir nichts hinter ihrem Namen vorstellen. Das würde es auch nicht wieder besser machen …
Trotz aller Ängste, Sorgen und Enttäuschungen musste ich den Wald so schnell wie möglich verlassen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, denn eigentlich hatte ich nicht vor das Unwetter im Wald mitzuerleben.
Die Augen tränennass und die Arme aufgeschürft stand ich vom kalten Erdboden auf und strich mir über die verdreckte Hose. Mein Spiegelbild wollte ich gar nicht erst sehen. Ich musste Ähnlichkeit mit einem wilden Buschkind haben.
Mein Blick streifte über die dunkle, grün-braune Landschaft, als ich mich um meine eigene Achse drehte.
Verdammte Scheiße.
Das konnte alles nicht war sein …
So viel Ungerechtigkeit durfte einem Menschen an einem Tag einfach nicht wiederfahren. Es war einfach unfair!
Und als wären meine absolute Orientierungslosigkeit und die Enttäuschung darüber, von einer Person, die man geliebt hatte, hintergangen zu werden, nicht langsam mal genug, fing es in der Ferne wieder an zu donnern.
Ein äußerst seltsames Seufzen, ein hysterisches Stöhnen, entwich meiner Kehle, als ich noch einmal durch das unendliche Grün blickte.
Von wo war ich gekommen?
Wo war die Straße?
Wo war Forks?
Wo war Westen?
Wo um Himmelswillen befand ich mich hier?!
Panisch rannte ich los. Einfach geradeaus.
Irgendwo musste ich ja rauskommen. Irgendwann.
Das Donnern wurde lauter, meine Lungen schmerzten schon wieder.
Womit hatte ich das nur verdient?
Als die ersten Tropfen durch das Blätterdach zu mir durchdrangen, war ich schon unzählige Male auf den Waldboden gefallen und hatte mir die Knie aufgeschlagen.
Auch diese Mal liefen beim Laufen die Tränen. Es schien heute zusammen zu gehören. Auch wenn sie jetzt vor allem liefen, weil ich panische Angst hatte, nicht mehr aus dem Wald herauszufinden.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und tastete nach meiner Hosentasche.
Sie war leer.
Ich sackte fast zusammen, als mir einfiel, dass ich mein Handy gestern Abend in meine Tasche gepackt hatte.
Gestern. Heute Morgen.
Es kam mir vor, als läge es Monate zurück, als wäre es ein anderes Leben gewesen.
Das hier hatte nichts von Leben.
Das hier war ein auswegloser Albtraum.
Keuchend blickte ich mich wieder um.
Es sah so aus wie überall in diesem Wald.
Grün. Viel zu grün.
Der intensive Waldgeruch vermischte sich mit dem Duft nach frisch gefallenem Regen.
Ich war klitschnass, meine Klamotten klebten wieder auf meiner Haut.
Und es donnerte noch immer.
Jedesmal zuckte ich zusammen, fiel fast wieder hin. Die Blitze erleuchteten den Wald auf eine merkwürdig unwirkliche Art.
Es war gespenstisch.
Und der Regen.
Er trommelte auf den Blättern, gab einen seltsamen Takt vor, in den Blitz und Donner einstimmten.
Es machte mich wahnsinnig.
Ich kam mir richtig verfolgt vor, war kurz davor durchzudrehen.
Das immer gleiche Grün gab mir den Rest.
Am liebsten hätte ich mich einfach auf den Boden gelegt und mich dem Wahnsinn hingegeben. Vielleicht wäre dann alles erträglicher geworden.
Doch ich zwang mich zum Weiterlaufen. Ich durfte nicht einfach aufgeben, egal wie fertig ich war. Ich musste kämpfen.
Wenn schon nicht für ihn, dann wenigstens für meine Familie.
Rennend ließ ich weitere unzählige Farne, Wurzeln und Baumstämme zurück, ohne eine Ahnung, ob ich tiefer in den Wald lief oder mich seinem Rand näherte.
Doch eine kleine Hoffnung keimte in mir auf, als ich es sah.
Direkt vor mir. Eine Anhöhe. Die Bäume lichteten sich.
Um Luft ringend brachte ich die letzten Meter hinter mich und begann den Hügel hinauf zu klettern.
Vielleicht war ich oben hoch genug, um die Berge zu erkennen und mich orientieren zu können.
Auf der steilen Grasfläche war der Regen um ein Vielfaches stärker. Er prasselte nur so auf mich nieder.
Auch das Donnern und Blitzen war deutlicher. Alles wirkte klarer als in der grünen Hölle.
Aber die totale Nässe machte nichts einfacher.
Unzählige Male rutschte ich bei meinen Kletterversuchen ab, rollte manchmal mehrere Meter weit bergab. Es war grauenhaft.
Die Sturzbäche kamen mir von oben entgegen, die Schlammmassen ebenso.
Ich war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt.
Doch ich lief weiter, stand nach jedem Fall wieder auf und bahnte mir meinen Weg nach oben, begleitet vom Krachen und Leuchten des Himmels.
Als ich die Kuppe erreichte, schrie ich fast auf vor Glück.
Eine unbeschreibliche Erleichterung durchfuhr mich, als ich sie dort stehen sah.
Vielleicht war manchmal doch nicht alles so ungerecht, wie man dachte. Vielleicht hatte doch alles seinen Sinn. Vielleicht gab es ein Schicksal.
Am anderen Ende des Berges, dort, wo der Wald wieder begann, standen zwei Personen mit dem Rücken zu mir.
Sie standen nur dort, im Schutz der Bäume, und blickten Richtung Wald.
Die große Frau hatte langes, hellbraun gelocktes Haar und trug ein kariertes Hemd und Wanderhosen. Auf dem Rücken hatte sie einen Trekkingrucksack.
Der Mann neben ihr war noch ein Stückchen größer als sie und trug Shorts und ein T-Shirt. Seine Haare waren ebenfalls braun, hingen aber wirr von seinem Kopf. Im Licht des Blitzes glänzten sie.
Beide schienen kaum nass zu sein. Ihre Körper wirkten muskulös, ihr Auftreten selbstsicher.
Ein seltsames Gefühl der Angst erstickte die Erleichterung.
Der nächste Donner erschütterte die Erde.
„Entschuldigung?“ Meine Stimme hörte sich grauenhaft an.
Zögernd ging ich auf die beiden zu.
„Entschuldigung“, sagte ich wieder, „können sie mir helfen?“
Langsam, es wirkte wie in Zeitlupe, drehten sie sich zu mir herum.
Zuerst erkannte ich die Bleiche ihrer Haut, dann die Farbe ihrer Augen. Ein dunkles und trotzdem leuchtendes Rot.
Die Frau lächelte mir höhnisch zu und entblößte dabei ihre makellos weißen Zähne.
Sie machte einen Schritt auf mich zu.
Ich war verloren.

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