Sonntag, 31. Oktober 2010

Von Washington nach Washington

Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.
- Blaise Pascal

- Amy -

„Amelia Brooke Westwood! Wenn du nicht sofort hier unten bist, dann bleibst du den ganzen Sommer über hier, hast du mich verstanden?!“ Mum. Warum? Warum konnte sie nicht mal zwei Minuten warten?
„Ich bin schon unterwegs!“, rief ich ihr die Treppe runter zu. Ich zog den großen roten Koffer hinter mir her, der bis oben hin gefüllt war und versuchte mir gleichzeitig noch die Jacke überzuziehen.
„Komm, Schatz, nimm Amy doch mal den Koffer ab! Und Tyler? Tyler, wo bist du denn schon wieder hin? Ihr macht mich noch ganz fertig!“
„Ganz ruhig, Mum. Der Flieger geht in zweieinhalb Stunden und wir sind in einer Viertelstunde am Flughafen. Kein Grund zur Panik.“ Ich reichte meinem Dad den Koffer und ging die Treppen vor unserem Haus herunter. Mum versuchte noch Tyler eine Jacke überzuziehen und kam dann mit ihm hinter uns her. Ich stieg hinten in unseren schwarzen Kombi und schnallte mich an.
„Und die Regenjacke hast du auch ganz bestimmt eingepackt?! Und die Gummistiefel?!“
„Ja, Mum“, sagte ich leicht genervt. Traute sie mir mit fünfzehneinhalb Jahren immer noch nicht zu, dass ich in der Lage war, meinen Koffer selbst zu packen? „Ich hab alles eingepackt, was ich für den Sommer in Washington brauche.“ Regensachen, also. Warum hatte ich bloß zugestimmt, meine Tante zu besuchen? Klar, ich mochte sie. Und meine Cousine noch mehr. Aber konnten sie nicht in Florida wohnen? Oder in Kalifornien? Warum ausgerechnet Washington? Und dann noch nicht mal Seattle oder Olympia. Nein! Sie wohnten in einer Kleinstadt! Forks! Vermutlich das langweiligste und verregneteste Kaff in ganz Nordamerika!
„Von Washington nach Washington! Ist das nicht lustig?“ Ich verdrehte die Augen. Dad hielt seine Witze immer für so amüsant. Von Washington nach Washington. Wär ich doch nur in MEINEM Washington geblieben, dann hätte ich den ganzen Sommer mit Nicole und Hannah verbringen können. Washington. Oh Mann! Da hatte ich mich auf was eingelassen!

„ … Und grüß die Zwillinge von mir!“, meine Mutter umarmte mich jetzt schon zum fünften Mal.
„Mum! Ich flieg nicht ans andere Ende der Welt!“
„Aber ans andere Ende der Landes!“ Es war das erste Mal, dass sie mich ganz alleine fliegen ließen. Dad hatte extra einen Direktflug nach Seattle raussuchen müssen, sonst hätte Mum mich nicht gehen lassen. Eltern. Wirklich! Als ob ich nicht in der Lage wäre, ein Flugzeug zu besteigen und nach ein paar Stunden meinen Koffer vom Gepäckband zu nehmen.
„Und benimm dich!“
Ich stöhnte auf. „Ich bin kein kleines Kind mehr, Mum! Ich pack das schon, keine Angst! Ich muss jetzt, glaub ich, auch langsam mal los. Der Flieger wartet nicht ewig!“
Sie drückte mich noch einmal ganz fest an sich. „Ich hab dich lieb, Schatz.“
„Ich dich auch. Und euch zwei natürlich auch!“ Ich lächelte meinem Dad und Tyler zu. „Also dann, Leute. Wir sehn uns in zwei Monaten!“
„Ruf sofort an, wenn du gelandet bist!“
„Wir sehn uns!“, sagte ich noch einmal. Dann ging ich durch die Absperrung in den großen Warteraum. Ich drehte mich noch ein letztes Mal zu meiner Familie um und sah, dass meine Mum doch tatsächlich Tränen in den Augen hatte. Ich winkte noch einmal schnell und bog um die nächste Ecke. Washington … ich blickte zur großen Anzeigetafel an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Da stand mein Flug. Seattle. Noch zwanzig Minuten, dann war Abflug. Ich ging durch den Saal und warf einen flüchtigen Blick über die Menge. Eine Buntgemischte, wie ich feststellte. Viele Familien mit kleinen Kindern, aber auch Studenten und junge Paare, ältere Pärchen und Leute, die aussahen, wie meine Grandma. Ich schaute wieder nach vorne und ging zum Schalter, der für meinen Flug ausgezeichnet war. Ich kramte in meiner Tasche nach den Bordtickets und meinem Ausweis. Als ich beides gefunden hatte, zeigte ich es der Dame und sie lächelte mir zu. „Guten Flug!“, sagte sie. Ich dankte ihr leise und ging den Gang weiter entlang. In ein paar Stunden würde ich wieder in Washington sein. Leider nicht in Washington D.C.. Aber wenigstens Washington, sagte ich mir.

Der Flug war angenehm. Angenehmer, als ich erwartet hatte. Ich kam gegen zwölf Uhr Ortszeit in Seattle an. Ich hatte im Flugzeug gelesen und etwas ferngesehen. Trotzdem war ich erschöpft. So war das immer, wenn ich lange stillsitzen musste ohne eine sinnvolle Beschäftigung zu haben. Jetzt wartete ich hier am Gepäckband auf meinen Koffer. Und ich hatte Glück, denn der große rote war einer der ersten, die auf das Band gelegt worden waren. Ich griff ihn mir und machte mich auf den Weg zum Ausgang.
Ich sah sie schon von weitem. Zwei weibliche Gestalten, die mit wachsamem Blick auf die Tür starrten, auf die ich gerade zuging. Als sie mich erkannten, breiteten sich auf ihren Gesichtern freudestrahlende Ausdrücke aus. Die größere kam auf mich zugelaufen und auch ich stürmte durch die Glastür, die sich wie von Zauberhand vor mir geöffnet hatte.
„Amy!“
„Angela! Ich hab dich so vermisst!“
„Ich dich auch, Cousinchen!“ Wir schlossen uns in die Arme und blieben eine Ewigkeit so in der Flughafenhalle stehen.
„Verdammt, bist du groß geworden!“, sagte Angela, als sie mich irgendwann mal losgelassen hatte.
„Und du siehst so gut aus, wie immer.“ Ich grinste sie an. Ja, ich hatte sie sehr vermisst.
Auch meine Tante kam jetzt auf uns zu. Sie hatte Angela und mich eine Weile aus der Ferne beobachtet und gewartet, bis wir unsere Begrüßung beendet hatten. Sie nahm mich in die Arme und murmelte mir ins Haar: „Amy. Es ist so schön, dass du da bist.“
„Ich freu mich auch hier zu sein, Tante Leann. Danke, dass ihr mich eingeladen habt.“
„Wir danken dir, dass du unsere Einladung angenommen hast.“ Sie ließ mich los und die beiden befragten mich, wie es Mum und Dad und Tyler ginge und wollten wissen, was es sonst so Neues gab. Und ich grüßte sie von allen Leuten, die sie außerhalb von ihrem Washington kannten.
Wir fanden das Auto der Webers auf Anhieb und zweieinhalb Stunden nachdem meine Tante den Wagen gestartet hatte, erreichten wir Forks.
„Das ist es also, hm? Forks …“
„Du wirst es hier mögen, Amy“, versicherte Angela mir, „die Leute sind alle echt okay. Außerdem ist es nicht weit bis ans Meer, nach La Push, und wir können ja auch mal nach Tacoma oder so fahren.“
„Schon okay, Ang. Das wird bestimmt ein ganz toller Sommer!“ Ich versuchte ein halbwegs überzeugendes Lächeln zustande zu bringen und schaute sie erwartungsvoll an.
„Bestimmt!“ Auch sie lächelte mich an. Und ich glaubte meiner Cousine. Das musste man einfach, sie hatte etwas so ehrliches an sich, dass ich kaum glauben konnte, dass sie es fertigbrachte zu Lügen. Es würde ein toller Sommer werden. Sie hatte den Glauben daran, also gab auch ich meine Hoffnung nicht auf.

Es war schon später Nachmittag, als ich all meine Sachen ausgepackt hatte. Ich sollte auf einem alten Bett schlafen, das in Angelas Zimmer stand. Sie hatten darauf bestanden, dass ich ein richtiges Bett bekam und deshalb das alte meiner Tante wieder vom Dachboden geholt und zusammengebaut.
In Forks war ich dann wieder begrüßt worden, diesmal von drei männlichen Personen. Mein Onkel und meine beiden Cousins standen schon an der Straße und warteten auf unsere Ankunft. Auch sie waren sehr herzlich. Und ich musste zu meiner Überraschung feststellen, dass Isaac und Joshua ziemlich gewachsen waren, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Tante Leann hatte sich sehr über die Bilder gefreut, die ich ihr auf Mums Wunsch mitgebracht hatte. Es waren Bilder unserer letzten Urlaube in New York und Norfolk, Schulbilder von Tyler und mir, ein neues Familienportrait und die Bilder von Dads letztem Geburtstag im März.
„Schade, dass wir nicht kommen konnten. Ich denke, wir werden euch im Herbst mal wieder besuchen. Vor Weihnachten auf jeden Fall.“ Das Portrait wollte sie sich neben den Kamin zu den anderen Familienbildern hängen und auch die restlichen Bilder gut aufbewahren.
Nachdem sie mir erzählt hatte, dass sie mein Lieblingsessen als Willkommensgeschenk kochen würde, kam Angela in die Küche und wollte mir ihren Ort zeigen.
„Gerne“, sagte ich zustimmend und lief hoch in UNSER Zimmer um meine Regenjacke zu holen. Ich war in Forks vom landestypischen Wetter begrüßt worden: Regen. Ich hatte ja immer noch die Hoffnung, dass es in diesem Sommer mal etwas mehr Sonne geben würde, aber so ganz glaubte ich selbst nicht daran. Also: Regensachen an und los!
Meine Cousine zeigte mir die Läden in ihrer Kleinstadt, die Polizei, das Krankenhaus, ihre ehemalige Highschool. Die wirkte jetzt während der Sommerferien allerdings ziemlich verlassen. Wir lachten ziemlich viel und Angela erzählte mir von ihrem Freund Ben. Ich freute mich schon, ihn endlich kennen zu lernen, nachdem ich während der letzten zwei Jahre schon so viel von ihm gehört hatte.
„Du wirst ihn mögen! Er ist einer der liebenswürdigsten, aufrichtigsten und witzigsten Menschen, die ich kenne!“ Das versicherte mir Angela immer wieder und ich war mir sicher, sie hatte Recht. Und ich konnte nicht anders, als zu grinsen, als ich ihren Blick sah, wenn sie von Ben sprach. Die beiden hatten ihr erstes Jahr an der Uni schon hinter sich und verstanden sich immer noch so „wunderbar, wie am ersten Tag“. Ich freute mich so für sie, dass sie ihren Seelenverwandten scheinbar schon gefunden hatte. Im Gegensatz zu mir. Natürlich fragte sie mich über die Jungs in Washington aus. Was hatte ich auch anderes erwartet?
„Naja, also es gibt da jetzt niemanden besonderen“, sagte ich ihr. Den gab es ja auch nicht. Nur so ein paar süße Typen, bei denen ich aber eh nie eine Chance haben würde. Ich war eben ein ganz normales, unscheinbares Mädchen. Dunkelblonde, lange Haare, durchschnittliche Figur, blau-graue Augen. Nicht besonders groß oder klein, ganz normales Gesicht. Auf jemanden wie mich achteten diese Jungs nicht. Aber vielleicht, irgendwann, würde ich ein ähnliches Glück haben, wie Angela.
„Wer weiß, vielleicht gefällt dir ja einer der Jungs hier“, wiedermal lächelte sie mich an.
„Wer weiß …“, pflichtete ich ihr bei. Aber diesmal wollte ich ihr nicht wirklich glauben. Das war in meinen Augen sehr unwahrscheinlich – wenn schon nicht in Washington D.C., warum dann ausgerechnet in Forks, Washington?
„Hey! Das hab ich ja ganz vergessen!“ Sie war stehen geblieben und schaute mich an.
„Was?“, fragte ich irritiert.
Angela fing leise an zu kichern. „Ich bin auf eine Hochzeit eingeladen! Rachel, eine Freundin von mir, heiratet am Samstag. Ich hab sie an der Uni kennengelernt. Sie kommt aus La Push, genauso wie ihr Verlobter, Paul. Sie sind beide ziemlich nett und ich denke, gegen einen Gast mehr oder weniger hätten sie bestimmt nichts einzuwenden!“
„Ich soll mit dir auf eine Hochzeit gehen?“, ich schaute sie verdutzt an.
„Klar! Dann lernst du gleich mal die ganzen Leute kennen. Die Jungs aus La Push sind alle ziemlich nett, ich wette, der ein oder andere könnte dir gefallen!“
„Angela!“ Wieder lachte sie.
„Du musst ja nicht mitkommen, aber es wäre bestimmt interessanter, als zu Hause ganz alleine mit Isaac und Joshua rumzuhängen.“
„Hmm … Da hast du wohl recht. Und du meinst echt, diese Rachel fände das okay, wenn ich auch komme? Ich meine, ich kenn sie ja gar nicht!“
„Klar, Rachel ist ziemlich gern unter Leuten, du wirst sie mögen. Ich ruf sie morgen an und frag, ob ich dich mitbringen darf. Ich wette sie sagt ja!“
„Und was soll ich dann bitte anziehen?“
Sie lachte über meine halb verzweifelte, halb verärgerte Stimme. „Kein Problem, Amy, wir finden schon was. Aber jetzt müssen wir los, Mum wartet bestimmt schon mit dem Nudelauflauf!“
Und dann zog sie mich hinter sich her und wir machten uns auf den Weg zurück zum Haus der Webers.

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