Sonntag, 31. Oktober 2010

Verlassen

We've tried so hard to understand
But we can't
We held the world out in our hands
And you ran away

- All We Know * Paramore



- Seth -

„Amy!“ Mein Schrei klang genau wie ich mich fühlte.
Verwirrt.
Verzweifelt.
Verletzt.
Verlassen.
Vor allem verlassen.
Ich verstand es einfach nicht.
Warum in aller Welt rannte sie einfach weg?
Was hatte ich getan?
Bevor ich duschen gegangen war, war doch noch alles in Ordnung gewesen. Sie war meine geliebte Amy gewesen. Nichts konnte ihre Laune trüben.
Und dann hatte die Tür geknallt und sie war weg gewesen.
Einfach so.
Ohne eine Erklärung, ein Wort des Abschieds. Ohne irgendwas.
Der Sturm tobte um mich herum, peitschte den Regen gegen meine Brust. Meine Shorts klebten schon durchnässt an meinen Beinen und die Haare hingen hinunter. Doch es war mir egal.
Alles war egal.
So lange Amy verschwunden war und ich nicht wusste was los war, war so ziemlich alles andere egal.
Ich rannte durch die Stadt und schrie ihren Namen. Irgendwo musste sie ja sein.
Unten an der Straße hatte ich ihre Spur verloren, doch noch schob ich das auf den einsetzenden Regen, mit der Hoffnung, dass sie noch da war.
Doch sie war nicht da.
Ich fand sie nicht.
Ich spürte ihre Abwesenheit.
Mein Herz schien unter der Anspannung zu zerreißen.
Klitschnass schlug ich den Weg zu unserem Haus ein.
Vielleicht erreichte ich sie ja bei ihrer Tante.
Ich riss die Tür auf und tropfte das ganze Wohnzimmer voll.
Als ich das Telefon erreichte, blieb ich stockend stehen.
Auf dem Anrufbeantworter war eine neue Nachricht.
Ein seltsames Zittern durchfuhr mich.
Langsam hob ich meinen Finger, um auf den Wiedergabeknopf zu drücken.
Dann schloss ich die Augen und lauschte Jareds Stimme.
Ich hörte, wie meine Atmung beschleunigte, wütender wurde.
Ich musste irgendetwas kaputt treten. Am liebsten Jareds Knochen.
„Ich bring dich um“, zischte es durch den Raum. „Ich bring dich um.“
Mit voller Wucht schmetterte ich meinen Fuß gegen den Couchtisch. Der Fuß brach weg und das Geschirr krachte auf den Boden.
Es war mir immer noch egal.
Das altbekannte Zittern überkam mich und ich stürzte zur Tür, bevor ich die Kontrolle endgültig verlor. Noch im Sprung verwandelte ich mich.
Ich rannte durch das Unterholz, der Sturm tobte um mich herum.
Auch in mir tobte es. Ich konnte nicht klar denken, wollte nicht, dass es wahr war, konnte es nicht begreifen.
Nicht jetzt.
Unterbewusst rannte ich zur Straße, auf der Suche nach Amys Duft.
Doch ich fand nichts.
Um das ganze Dorf herum fand ich nichts.
Die Blitze zuckten über den Himmel und es krachte ohrenbetäubend.
Meine Gedanken rauschten noch immer ungeordnet durch meinen Kopf, als ich mich vor Emilys Haus wiederfand.
Ich kochte vor Wut, doch ich zwang mich zur Verwandlung.
Auch als Mensch konnte ich nicht besser denken oder ruhiger atmen.
Nicht in dieser Situation.
Ich rannte die kleine Veranda empor und stieß so fest gegen die Tür, dass sie mit einem lauten Krachen gegen die Wand flog.
Im selben Moment donnerte es.
Leah schrie.
„Seth!“ Jared. Eine neue Welle von Wut überkam mich. „Was ist los? Du bist ja aschfahl!“
„Ich bring dich um, Jared.“ Es war nur ein Zischen, aber alle Anwesenden verstanden meine Worte. Im Raum herrschte totenstille.
Jareds Gesichtsausdruck wurde fragend. Er verstand mich nicht.
„Du bist sowas von tot.“ Die Stimme wurde lauter, hysterischer.
„Hey, hey. Seth, was ist passiert?!“ Jared klang besorgt, Leahs und Emilys Blicke hatten etwas Panisches.
Panik.
Sie überkam mich plötzlich. Vollkommene Panik.
„Sie ist weg!“ Wieder dieses hysterische Schluchzen. Etwas Warmes lief über meine Wangen, doch ich ignorierte es. „Einfach weg …“
„Amy?“, fragte Leah verdutzt.
„Wer sonst?!“ Mein Schrei klang grob, doch ich konnte nichts dagegen tun. Ich kämpfte schon wieder mit meiner Selbstkontrolle. Es fiel mir schwer mich zu beherrschen.
Jared war immer noch verwirrt. „Was ist denn passiert, Seth?“
Mein Atem kam stoßweise, verzweifelt. „Du bist passiert! Du und dein ach so toller Anruf!“
Seine dunkle Haut wurde seltsam bleich, seine Augen kniffen sich zusammen. „Sie ist nicht deshalb abgehauen, oder? Ich mein, ich hab doch nur …“
„Du hast Scheiße gebaut! Ziemliche Scheiße! Du kennst sie doch! Du weißt, wie schnell sie eifersüchtig wird!“ Beim letzten Satz brach meine Stimme.
„Was hat sie gesagt?“, fragte meine Schwester. „Warum hast du es ihr nicht erklärt?“
Verständnislos starrte ich sie an.
„Wie denn? Ich war im Bad als unser Held anrief! Die Tür knallte und …“ Meine Stimme wurde zu einem Flüstern. Einem schmerzerfüllten Flüstern. „… sie war weg.“
Ich versuchte zu schlucken, doch der Kloß in meinem Hals bewegte sich nicht von der Stelle.
Langsam legte sich die Wut und machte Trauer, Angst und noch mehr Panik Platz.
Ich ließ mich auf den Sessel sinken und sprach mit zitternder Stimme weiter, während die Tränen flossen.
„Ich bin ihr hinterher, wollte sie suchen, ihr sagen, dass sie das alles total falsch verstanden hatte, aber ihre Spur verlor sich an der Straße. Wenn ihr jetzt irgendwas passiert …“
Wieder versagte meine Stimme.
„Hey, Kleiner!“ Leah kam zu mir herum und legte mir beruhigend den Arm um die Schulter. „Alles wird gut, okay? Ich wette, Amy ist schon längst wieder sicher in Forks. Du solltest sie anrufen und ihr einfach alles erklären.“
Doch ich schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht in Forks, Leah. Oder vielleicht ist sie es, aber es geht ihr alles andere als gut. Sie ist nicht sicher. Sie steuert auf ein Unglück zu, ich spüre es!“
Als ich es sagte, merkte ich, wie wahr die Worte waren.
Sie war in Gefahr.
Eine neue Panikwelle erfasste mich.

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