Sonntag, 31. Oktober 2010

Zweite Chance

I don't mean to run
But every time you come around I feel
More alive, than ever
And I guess it's too much
But maybe we're too young and I don't even know what's real
But I know I've never
Wanted anything so bad
I've never wanted anyone so bad
- Adore * Paramore


-Seth-

Sie betrat den Raum mit gesenktem Kopf, schaute mich nicht an.
Ihre Haare, die wild und nass aussahen, verdeckten ihr Gesicht. An den Armen hatte sie Kratzer, ebenso an den Beinen. Ihre Knie waren aufgeschlagen und ihre Klamotten zerrissen.
Sie wirkte angespannt, doch ich fand es schwer, sie einzuschätzen.
„Hey! Ist alles in Ordnung bei dir?“
Sie lachte einmal kurz auf, hysterisch und verstört, warf ihren Kopf nach hinten und blickte zum Fenster.
„ Was-?“
„Verdammte Scheiße, nichts ist in Ordnung! Ich-“
Sie brach ab. Ich sah sie gegen die Tränen kämpfen, Mund und Augen zusammengekniffen.
Auch ich schloss die Augen, wollte sie nicht leiden sehen.
Ich hatte sie tiefer verletzt als ich geglaubt hatte.
„Es tut mir so leid, Amy.“ Meine Stimme war nur ein Wispern.
„Nein, es ist alles meine Schuld und es tut mir wahnsinnig leid, was passiert ist. Ich werde mir das wahrscheinlich nie verzeihen können.“ Sie stockte. „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich jetzt gehe.“
„Nein!“ Ich rief es lauter als beabsichtigt. „Nein, bitte bleib! Bitte.“
Endlich drehte sie sich zu mir um. Ihr Gesicht war gezeichnet von Trauer und Angst. Sie hatte leichte Schürfwunden an der Stirn und auf den Wangen, war auch hier mit Schlamm verschmiert. Doch am auffälligsten waren ihre Augen. Diese Augen, die immer für mich geleuchtet hatten und die noch immer eine so riesige Macht über mich hatten. Sie waren rot und verweint. Noch immer glitzerten die Tränen in ihnen.
„Amy, bitte. Hör mir zu. Es tut mir alles so leid. Ich wollte nicht, dass so etwas passiert. Bitte geh jetzt nicht.“ Mit flehendem Blick schaute ich sie an. Ich spürte, dass auch mein Gesicht zu einer Maske verzogen war, die ihre Gefühle wiederspiegelte.
Trauer, weil so viel Schlimmes an einem Tag passiert war und ich sie enttäuscht hatte.
Angst, weil ich sie nicht verlieren wollte.
Sie senkte wieder den Blick, nahm sich meinen Schreibtischstuhl und zog ihn neben mein Bett. Schweigend setzte sie sich und blickte auf meinen Teppich.
Ich schaute sie eine Weile still an.
Irgendwann durchbrach Amy die unangenehme Stille, die uns zu zerdrücken drohte.
„Wie geht es deinem Bein?“, fragte sie wispernd.
„Carlisle hat es geschient und mir verboten es zu bewegen. Es war gebrochen und musste nochmal gebrochen werden, weil es schief zusammengewachsen wäre.“
Amy zuckte zusammen und ich dachte an den Schmerz, an meine Schreie.
„Es ist tierisch geschwollen, aber die Schmerzen sind zu ertragen. Vielleicht darf ich übermorgen schon wieder laufen.“
Ich lächelte ihr zu, doch Amy schien es nicht zu sehen. Sie nickte nur und schwieg wieder.
Nach ein paar weiteren Minuten hielt ich es nicht mehr aus,
„Okay Amy, was ist los? So kommen wir nicht weiter.“
„Wer ist Valeria?“
Angestrengt blickte ich auf das Muster meiner Bettdecke.
„Valeria. Wer ist sie?“ Ich hörte den Schmerz in ihrer Stimme und fühlte ihre Angst.
„Amy“, ich blickte wieder auf und sah, dass sie ihre Hände betrachtete. Behutsam streckte ich meine aus, nahm ihre in meine und schaute in ihre wundervollen Augen. Sie hielt den Blick gesenkt.
„Valeria ist Emilys Cousine. Sie lebt in Oklahoma, ich habe sie das letzte Mal auf Emilys Hochzeit gesehen. Bei ihrem letzten Besuch hier … nun ja, sie hatte sich ziemlich in mich verknallt und allen erzählt, dass wir zusammen wären. Hör zu …“
Ich sah die Tränen in ihren Augen. Ich wollte sie nicht sehen. Sie sollte nicht weinen, nicht schon wieder. Nicht wieder wegen mir.
Sanft hob ich ihr Kinn an, sodass sie mich ansehen musste. Dann erst sprach ich weiter.
„Ich habe nie etwas von ihr gewollte. Sie ging mir schon immer auf die Nerven. Ich weiß, ich hätte es dir erzählen müssen, aber ich hielt es für total nebensächlich, hatte es wieder verdrängt, überhaupt nichtmehr daran gedacht. Aber ich hätte auch nie geglaubt, dass sie hier einfach so auftaucht. Ohne Vorwarnung!“ Ich senkte meine Stimme. „Es tut mir leid. Unglaublich leid, Amy, und ich bete zu Gott, dass du mir verzeihen kannst. Ich weiß, ich habe dir damit sehr weh getan, wahrscheinlich noch mehr als ich mir vorstellen kann und vermutlich hätte ich es sogar verdient, wenn du mich nie wiedersehen wolltest. Aber du musst wissen, dass du die erste und einzige bist, die ich je geliebt habe und das auch für immer so bleiben wird. An meinen Gefühlen für dich hat sich nichts geändert und ich hoffe, du weißt das. Alles, was ich dir je gesagt habe war wahr. Ich habe dich nie belogen oder betrogen.“
Ich legte meine Hände wieder auf die Bettdecke und schloss die Augen. „Ich bin der größte Idiot der Welt.“
Amy schwieg und als ich die Augen wieder aufschlug sah ich, dass ihr wieder Tränen übers Gesicht liefen.
„Bitte, du darfst mich schlagen und mir das Bein nochmal brechen, aber bitte, bitte wein nicht! Ich ertrag das einfach nicht!“
Es tat so furchtbar weh ihr Kummer zu bereiten.
Doch Amy schüttelte nur den Kopf. Schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und sprach mit zitternder Stimme.
„Ich bin die größte Idiotin der Welt. Was ich heute getan habe war unverzeihlich. Ich … ich hätte nie einfach so wegrennen und dich verurteilen dürfen. Es war einfach dumm. Es tut mir unheimlich leid. Ich hätte dir vertrauen müssen und nie so heftig reagieren dürfen. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Das mit deinem Bein tut mir so leid und auch, dass ich euch alle fast umgebracht hätte. Ich werde mir das nie verzeihen können. Ich hätte es verdient, wenn alle mich hassen würden. Dich trifft keine Schuld, ich bin die einzige Verantwortliche. Ich könnte es verstehen, wenn du mich nie wiedersehen willst.“ Am Ende war ihre Stimme nur noch ein Flüstern.
Sie nahm ihre Hände vom Gesicht und senkte ihren Blick auf meine Decke.
„Amy“, ich versuchte einfühlsam zu klingen. „Das wäre das letzte, was ich wollen würde. Wenn du mir zugehört hast, dann weißt du, dass ich das nicht überleben würde. Ich weiß, dass ich dein Vertrauen verspielt habe, aber ich flehe dich an: Bitte. Wir können das schaffen. Ich weiß es.“
„Seth, ich-“
„Amy.“ Meine Stimme war ein einziges Flehen, begleitet von Angst. „Bitte.“
„Ich vertraue dir. Wahrscheinlich sogar mehr als mir selbst. Ich verspreche dir, so etwas passiert nie wieder. Ich werde nie wieder zulassen, dass sich so etwas zwischen uns drängt. Es tut mir so leid.“
„Heißt das ...?“
„Wenn du mich noch willst.“ Sie versuchte zaghaft zu lächeln, doch die tränenfeuchten Wangen ließen es seltsam erscheinen.
Mein Herz pochte um Tonnen leichter, als diese Last von ihm abfiel.
„Wie könnte ich nicht, Amy! Wie könnte ich nicht!“
Ich strahlte sie an. „Danke.“
Amy stand auf und kam auf mich zu. „Ich danke dir! Ich hab‘ dich immer noch nicht verdient. Jetzt weniger als je zuvor.“
Sie setzte sich auf den Rand meines Bettes und strich mir die Haare aus der Stirn. „Entschuldigung.“
Ich genoss die Berührung ihrer kalten Finger, die auf meiner Haut brannten.
„Ich war nie sauer auf dich. Nur auf mich selbst. Und auf Jared. Ich könnte nie böse auf dich sein.“
„Sag sowas nicht.“ Sie lehnte ihren Kopf sanft auf mein Schlüsselbein. „Man weiß nie, was noch passiert.“
Ich nahm meinen Arm und legte ihn ihr um die Schulter.
„Da hast du Recht. Alles was ich weiß ist, dass ich dich liebe. Solange, bis wir sterben.“
Amy hob ihren Kopf, schaute mich einen Moment an und schloss dann ihre Augen, um mich zu küssen.
Es war ein kurzer, süßer Kuss, dann lehnte Amy sich wieder ein Stück zurück.
„Nie wieder, okay?“ Ich verspreche es. Nie wieder wird sich jemand zwischen uns drängen.“
„Nie wieder“, sagte ich lächelnd. „Versprochen.„
Und dann waren ihre Lippen wieder auf meinen.
Ich konnte mir nichts schöneres vorstellen, als ihre warmen Lippen, die sich sanft auf meinen bewegten; als ihren Atem zu spüren, ihn einzuatmen; als Amy in meinen Armen zu spüren und sie nie wieder hergeben zu müssen.
Nie wieder.

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