Sonntag, 31. Oktober 2010

Die Hochzeit

Hello, you fool, I love you
- Joyride * Roxette


-Amy-

„Hier. Wie wär’s mit dem Weißen? Mir passt’s, glaub ich, nicht mehr. Das würde dir bestimmt super stehen …“
Noch zwei Stunden bis zur Hochzeit und ich hatte immer noch nicht das richtige Kleid gefunden. Die meisten der paar Kleider, die Angela und Tante Leann mir gezeigt hatten, hätten mir eh nicht gepasst und die meiner Tante sahen auch größtenteils nicht gerade sehr hübsch aus. Das, das Angela jetzt aus den Tiefen ihres Schrankes gekramt hatte, war allerdings eine Ausnahme. Es war ein wunderschönes, weißes Sommerkleid. Knielang mit Spitzenrändern, aber trotzdem modern.
„Wow. Ang, das ist … das ist wunderschön!“
Sie lächelte mich an. „Ich konnte es leider nicht oft tragen, aber bei diesem phänomenalen Wetter ist es doch ideal! Probier’s mal an!“
Sie hatte Recht. Mal wieder. Das Wetter war wirklich viel besser, als ich es erwartet hatte. Ich hatte ja geglaubt, mir würden zwei Monate Regen-Hölle bevorstehen, aber seit meiner Ankunft hatte es erst zweimal geregnet. Mein Onkel meinte schon, das wäre ein Rekord für Forks und ich solle so lange bleiben, wie möglich, damit das schöne Wetter blieb. Vom Humor her war er meinem Vater sehr ähnlich; wär von wem „gelernt“ hatte, war mir allerdings nicht ganz klar.
Ich schlüpfte in das Kleid und trat vor den Spiegel.
„Das sieht … also wirklich … Amy, das … das ist wunderschön!“ Angela war ganz überrumpelt.
Ich auch. Ich erkannte mich kaum wieder. Obwohl ich nur ein Kleid angezogen hatte. Ich musste zugeben, ich sah wirklich gut aus. Das Weiß machte meine leicht gebräunte Haut noch etwas dunkler und, verdammt, ich sah so elegant aus! Aber trotzdem hatte das Kleid noch etwas romantisches, sodass es nicht zu Lady-like oder Erwachsen wirkte.
„Das MUSST du anziehen!“, sagte Angela fast schon fordernd. Ich lächelte sie an und stimmte zu. Ein schöneres Kleid hatte ich noch nie angehabt.
„Aber versuch Rachel nicht die Schau zu stehlen!“ Angela fing an zu lachen und ich errötete. Bei dem ganzen Kleid-Gesuche hatte ich den Anlass schon fast verdrängt.
„Meinst du wirklich, ich sollte es anziehen? Ich meine, sie kennt mich ja noch nicht mal und wenn ich dann …“
„Schon okay, Amy. Ich wette, es gibt noch viel auffälligere Kleider. Ist doch immer so auf einer Hochzeit. Alle wollen mit ihren Kleidern die Braut übertrumpfen, aber an diesem speziellen Tag, schafft das keiner, alle Aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet, die anderen werden nebensächlich. Also kein Grund zur Sorge – so und jetzt das Make-up …“

Anderthalb Stunden später waren wir beide fertig angezogen und bereit für die Hochzeit der Frau, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.
Pünktlich um halb fünf klingelte es an der Haustür. Es war Ben. Ich hatte ihn schon vor drei Tagen zum ersten Mal getroffen. Er war wirklich nett und hübsch. Noch besser, als Angela ihn beschrieben hatte. Und wenn man die beiden zusammen sah, wusste man einfach sofort, dass sie zusammengehörten. Und das brachte mich immer zum Lächeln, wenn ich sie sah. Ich freute mich so für die beiden, sie hatten es verdient, glücklich zu sein!
„Hey Amy! Ang …“ Ben beugte sich zu Angela herunter und küsste sie. „Wow! Ihr seht wirklich hinreißend aus!“ Er lächelte uns beide an – oder eher Angela. Die wurde leicht rot und lächelte zurück. Dann drehte sie den Kopf nach hinten und rief ihrer Mutter zu, dass wir jetzt fahren würden. Meine Tante erschien nochmal in der Küchentür, begrüßte Ben, versicherte uns allen noch einmal, wie gut wir aussahen und wünschte uns viel Spaß.
„… aber bringt Amy nicht so spät zurück!“
„Mum! Amy ist 15! Außerdem ist sie unser Gast! Sie darf so lange bleiben, wie sie will!“
„Na gut, aber wenn du heim willst, Amy, dann musst du das Angela sagen!“
„Ich denke, ich komme mit den beiden zurück, Danke Leann.“ Dann lächelte ich ihr zu und ging mit den beiden anderen zu Bens Auto.
„Wir bleiben solange du willst“, flüsterte meine Cousine mir ins Ohr.
Ich lächelte sie an. „Ich hatte nichts anderes erwartet.“
Dann stiegen wir in Bens alten VW und machten uns auf den Weg. Ben plauderte hauptsächlich mit Angela und die sagte ihm bestimmt fünfmal in 15 Minuten, wie gut er in seinem schwarzen Smoking aussah. Ich schaute die meiste Zeit aus dem Fenster und beobachtete den Wald, der als gleichmäßiges Grün an mir vorbeirauschte.

Als wir auf dem großen Feld ankamen, war ich erst mal total überwältigt. Von allem. Eigentlich wäre es ja eine einfache Wiese gewesen, aber allein die Umgebung war atemberaubend. Oben auf den Klippen. In einiger Entfernung der Abhang. Die Sonne stand noch relativ hoch, würde später aber bestimmt dort hinten im Meer verschwinden, das jetzt schon in allen nur denkbaren Farben und Facetten glitzerte. Am anderen Horizont erhoben sich, hinter den nahen Wäldern, auf imposante Weise die Olympic Mountains. Auch sie leuchteten in der Sonne. Vom Meer her hörte man die Wellen gegen die Klippenwände schlagen. Das Rauschen war ein leises, wunderbares Hintergrundgeräusch. Anderes war um vieles lauter: Die Autos, die sich näherten und parkten und vor allem die vielen Menschen in wunderhübschen Kleidern, die teilweise einfach herumstanden und sich unterhielten, teilweise aber auch aufgeregt umherliefen und letzte Handgriffe tätigten. Die meisten der Untätigen standen um einige Tische und Pavillons herum, die, wunderschön dekoriert, auf dem Gras standen. Die drei Tische waren so angeordnet, dass sie in einer Art, die Strahlen glich, zum Meer zeigten. Der Mittelpunkt dieser drei Strahlen war ein großer und zwei kleine Pavillons, in denen später wohl das Essen stehen würde. Sie waren von Lichterketten umschlungen, genau wie die paar Bäume, zwischen denen sich allem Anschein nach die Tanzfläche befand. Sie standen ein wenig abseits von den Pavillons und Tischen, aber trotzdem nicht zu nah am Abgrund. Alles sah wunderschön aus, so, wie auch ich mir meine Traumhochzeit ausgesucht hätte.
Ben parkte auf einer anderen Wiese, auf der anderen Seite des Feldweges, der uns hierhergeführt hatte und ich kurbelte die Scheiben wieder hoch. Die Luft war warm, sehr angenehm. Es würde bestimmt ein wunderbarer Abend werden und nachdem ich das Ambiente schon so umwerfend fand, war ich noch gespannter, die unbekannte Braut zu treffen.
Ich war davon überzeugt, dass Rachel eine wunderschöne Frau sein musste. Und sehr nett und großherzig und anscheinend auch beliebt. Aber bestimmt auch sehr schön.
Angela trat neben mich. Auch sie sah mal wieder überwältigt aus, genau wie Ben, der alles mit großen Augen musterte.
„Das ist wunderschön“, flüsterte ich meiner Cousine zu, die neben mir auf die Tische und Menschen zuging.
„Oh ja“, war ihre einzige Antwort. Dann fasste sie sich aber wieder und sagte zu mir: „Ich stell dich gleich mal einigen Bekannten vor.“
Ich sah sie leicht beunruhigt an, aber sie lächelte mir aufmunternd zu. „Keine Sorge, Amy, du wirst sie mögen.“ Und damit konnte der unvergessliche Abend beginnen.

Angela führte mich zu einer kleinen Gruppe von Leuten. Sie hatte mir gesagt, dass sie die meisten Gäste selbst nicht kennen würde, aber diejenigen, die sie kannte, wollte sie mir vorstellen.
„Guten Abend, Chief Swan“, begrüßte Angela einen freundlich aussehenden Herrn, den ich ein paar Jahre älter einschätzte als meinen Dad.
„Oh. Guten Abend, Angela. Ben. Wie geht’s euch?“
„Alles bestens. Ich wollte Ihnen meine Cousine Amy vorstellen.“ Sie machte eine Handbewegung in meine Richtung und ich lächelte leicht schüchtern und verlegen. „Guten Abend. Schön sie kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits.“
Wieder sprach Angela. Es war ganz ungewohnt, sie so offen zu erleben. Vielleicht hatte Ben sie doch mehr verändert, als ich gedacht hatte. „Mr Swan ist der Polizeichef von Forks. Dank ihm leben wir alle in einer so friedlichen Kleinstadt.“
Diesmal war es Mr Swan, der etwas verlegen guckte. „Jetzt ist aber gut, Angela.“, hörte ich ihn murmeln. Angela überging sein Gemurmel aber einfach und fragte, ob Bella und Edward auch kommen würden.
„Ja, die beiden kommen auch, genau wie der Rest der Cullens.“
„Schön“, Angela schien sich wirklich zu freuen.
Ich überlegte. Bella? Edward? Cullen? Das kam mir irgendwie bekannt vor. Angela hatte letztes Jahr von einer wunderschönen Hochzeit einer Freundin erzählt. War das nicht Bella Swan gewesen?
„Kommt Renesmee auch mit?“
„Ja, die Kleine kommt auch.“ Ich sah in Mr Swans Augen etwas wie Vorfreude aufblitzen und auch Angela schien sich über diese Neuigkeit sehr zu freuen. Aber wer war Renesmee?
„Ach so. Ich stell euch mal den anderen vor“, Mr Swan wandte sich zu den anderen Leuten, denen er nach Angelas Begrüßung den Rücken zugedreht hatte und die unser kurzes Gespräche aufmerksam verfolgt hatten. Ich hatte das Gefühl, alle Augen der kleinen Gruppe seien auf mich gerichtet. Die meisten guckten jedoch ganz freundlich und etwas neugierig. Ich sah eine Frau, etwas jünger als Mr Swan, einen Mann in seinem Alter, der im Rollstuhl saß, eine junge Frau und drei junge Männer, die alle die, für die hier ansässigen Indianer typische, kupferfarbene Haut und schwarze Haare hatten.
„Sue, Billy – darf ich euch vorstellen: Amy - “ er zögerte kurz.
„Westwood“, ergänzte ich auf seinen fragenden Blick.
„Amy Westwood. Die Nichte von Mr Weber. Amy, das sind Sue Clearwater und Billy Black.“
„Schönen guten Abend.“ Ich schaute die beiden Älteren an. Die Frau mit den kürzeren Haaren lächelte mich freundlich an und nickte mir zu, genau wie der Mann im Rollstuhl.
„Schön, dich begrüßen zu dürfen.“ Mr Blacks Augen wirkte sanft, aber nervös zugleich und seine ganze Haltung hatte etwas Angespanntes.
Wieder ergriff Chief Swan das Wort. „Billy ist Rachels Vater. Ich glaube, der Rest kann sich selbst vorstellen, Billy braucht nochmal kurz ein bisschen Ablenkung.“ Er grinste den Mann im Rollstuhl schalkhaft an und schob ihn unter dessen Protest davon, Mrs Clearwater an seiner Seite.
Das mit dem Brautvater hatte ich mir schon fast gedacht. Kein Wunder, der Arme stand kurz davor seine Tochter einem jungen Mann anzuvertrauen. Ich schaute ihnen nach, dann wandte ich meinen Blick zu den vier übrig gebliebenen. Sie waren alle riesengroß. Das wirkte sehr unnormal, aber trotzdem fühlte ich mich nicht bedroht oder sonst irgendwie unwohl in ihrer Nähe. Sie sahen eher aus wie Beschützer, als wie Schläger.
Die junge Frau streckte mir ihre Hand hin. „Ich bin Leah, Sues Tochter.“
„Amy.“ Ich nahm ihre Hand, um sie zu schütteln. Als ich sie berührte, zog ich sie fast wieder zurück. Ihre Hand war heiß. Viel zu heiß! Selbst für Menschen mit hohem Fieber noch zu heiß!
Egal, wie verwirrt und fragend mein Blick in diesem Moment wohl ausgesehen haben musste, Leah überging es einfach mit einem freundlichen Lächeln. Ich hatte den Eindruck, dass zwei der Jungen sie auch entgeistert anstarrten, aber schon nach dem nächsten Blinzeln wirkten sie wieder beruhigt und schauten zu mir. Ich sah, dass sie nicht die Absicht hatten, mir die Hand zu schütteln und ich fragte mich, ob ihre Hände wohl genauso heiß waren, wie die des Mädchens.
Leah machte einen Schritt auf Angela und Ben zu, die immer noch neben mir standen und begann ein Gespräch über das College anzufangen.
Der am ältesten wirkende der Männer sprach mit einer tiefen Stimme zu mir.
„Hallo Amy. Mein Name ist Sam Uley, dass sind Embry -“ er zeigte zur Rechten auf einen schlanken Jungen, der fast so riesig war wie er selbst, „- und Collin.“ Diesmal wies er zur Linken auf einen etwas jünger aussehenden Mann von hünenhafter Gestalt.
Das waren also die Jungs aus La Push. Aber irgendetwas an ihnen war merkwürdig. Drei so große Jungen? Okay, konnte vorkommen. Aber so eine heiße Haut? Vielleicht hatte Leah ja auch nur in der Küche geholfen, sagte ich mir. Nichts war daran merkwürdig. Sie waren wahrscheinlich einfach ganz normale Teenager. Oder auch schon junge Erwachsene. Trotzdem hatten sie alle etwas mysteriöses …
Ich wurde von Embry aus meinen Gedanken gerissen. „Du bist also der -“ er machte Gänsefüßchen in die Luft, „ – Überraschungsgast.“ Er lächelte mich verschmitzt an und ich konnte nicht anders als rot zu werden.
„Naja … irgendwie schon … Angela meinte, es wäre okay und …“
„Hey, keiner macht dir Vorwürfe! Wir freuen uns immer über neue Gesichter.“ Leah warf Embry einen warnenden und zugleich bedeutungsvollen Blick zu. Er reagierte darauf leicht irritiert und musterte mich dann plötzlich ganz forschend.
„Danke“, sagte ich verlegen zu Leah.
„Keine Ursache.“ Sie lächelte mich wieder an. Dann sprach sie zu dem Größten – Sam? – und schaute auch ihn so an, als ob ihre Blicke und Wörter eine Botschaft hatten, die ich nicht verstand. „Habt ihr Seth gesehen?“
Collin kniff die Augen ein bisschen zusammen und Embry schüttelte, den Blick auf mich gerichtet, leicht mit den Kopf. Sam wirkte ganz unbeeindruckt und antwortete ihr.
„Ich glaube, der ist noch bei Jake und Jared, Paul fertig anziehen. Dein Brüderchen taucht schon noch auf, keine Sorge.“ Er schaute Leah in die Augen und dann nickte sie einmal ganz kurz.
Irgendwas war doch mit den Kindern hier nicht in Ordnung! Konnten die etwa Gedanken lesen oder hatten eine geheime Sprache, ohne Sinn, um andere zu ärgern?
Ich hatte keine Zeit mehr, mir darüber Gedanken zu machen, denn Leah verwickelte mich und Angela sofort in ein Gespräch über Washington D.C. und die Suche nach einem passenden College. Ben stand neben Angela, hielt ihre Hand und sagte ab und zu auch mal ein Wort.

Die Jungen verzogen und zerstreuten sich in alle Richtung, sodass ich sie bald aus dem Blick verloren hatte. Leah führte uns zu einigen weiteren Bekannten und stellt uns vor. Alle waren sehr nett und hießen uns herzlich willkommen.
Während sie uns rumführte, hatte ich Zeit, Leah und ihr Kleid genauer zu betrachten. Es hatte einen hellen Beigeton, aber mehr gelb als braun. Es ließ ihre so große Gestalt auf eine fast unmöglich erscheinende Art und Weise zart wirken und schmeichelte ihrer Haut. Auch viele andere weibliche Hochzeitsgäste trugen wunderschöne Kleider, sodass ich mir sagte, dass ich gar nicht groß auffiel, genau so, wie Angela gesagt hatte.
Während meine Cousine sich gerade mit einer älteren Frau unterhielt und Ben sich suchend umschaute, sah ich, wie Leah plötzlich leicht zusammenzuckte und dann auf einmal strahlte.
„Ich glaube, es geht gleich los!“ Sie wies uns an, auf Stuhlreihen Platz zu nehmen, die ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Sie standen auch etwas abseits und vor ihnen befand sich eine Art Podest mit Blumen und Kerzen und einem wundervoll verzierten Tisch.
Die vordersten Reihen waren schon ziemlich belegt. Leah wollte mich mit nach vorne nehmen, zu Rachels Familie und engsten Freunden. Ich lehnte aber ab und setzte mich zu Angela und Ben nach hinten in die letzte Reihe. Irgendwas plante sie doch …
Während wir dort saßen kamen immer mehr Menschen und nahmen ihre Plätze ein. Zu meiner Verwunderung auch noch gut zehn andere Jungen, die ebenfalls riesengroß waren. Irgendwas hatten sie den Jungs im Ort doch ins Essen getan, dass war ja nicht mehr normal!
Als noch zwei weiter junge Männer im schwarzen Smoking näher kamen, drehte ich ihnen den Rücken zu und fragte Angela leise, ob die hier alle so groß sein.
„Ja, irgendwie ist das schon merkwürdig“, sie kicherte, „die Jungs aus La Push sind alle solche Riesen. Aber frag mich nicht, wieso die alle so hochwachsen! Vielleicht liegt’s ja in den Genen.“
Also kein Einzelphänomen. Hatte ich ja eh ausgeschlossen. Wenn der halbe Stamm so unmenschlich groß war … Dann fiel mir eine andere Frage ein.
„Wer ist eigentlich Renesmee?“
Angela lächelte sanft. „Ich hab dir doch von Bella Cullen erzählt, oder? Meine Freundin, die letzten Sommer geheiratet hat. Naja. Kurz nachdem sie aus den Flitterwochen zurück war, erfuhren sie und Edward, dass seine Schwester - oder wer auch immer das war, ich versteh das nicht so ganz - jedenfalls sind da welche bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen. Ihre Tochter, Renesmee, hat überlebt und da Edward nicht wollte, dass seine Nichte, so wie er, ins Heim musste und er der einzige Angehörige war, den sie noch hatte, haben sie sie bei sich aufgenommen. Ich weiß nicht, ob ich das getan hätte. Ein kleines Mädchen aufzunehmen. Ich meine, die beiden sind nicht viel älter als Ben und ich und sie haben ja gerade erst geheiratet und ihr ganzes Leben noch vor sich. Aber ich hatte bereits das Glück, Renesmee kennen zu lernen. Glaub mir, sie ist das bezauberndste Kind, das du je getroffen hast.“ Wieder hatte sie so ein Leuchten in den Augen.
„Sehr ungewöhnlicher Name“, murmelte ich.
„Alle in dieser Familie haben ungewöhnliche Namen, glaube ich.“ Angela lächelte immer noch vor sich hin.
Plötzlich wurden wir von einer lauten Melodie unterbrochen, die mich sehr an den traditionellen Hochzeitsmarsch erinnerte, aber trotzdem entfremdet wirkte. Er hatte etwas Indianisches. Und da merkte ich, dass ich anscheinend nicht gut genug darüber nachgedacht hatte, wo ich hier war.
Ich hatte kaum darüber nachgedacht, angenommen, es würde eine ganz normale Hochzeit werden. Pustekuchen! Ich war hier bei Indianern! Aber hatten die andere Traditionen als wir? Der Bräutigam stand jedenfalls schon mal vor dem ‚Altar‘, zusammen mit einem anderen Jungen und einem älteren Mann, wahrscheinlich einem der Stammesältesten, der die Zeremonie leiten würde, da war ich mir sicher. Alle standen auf und von hinten sahen wir sie kommen.
Rachel, an der Hand ihres Vaters, begleitet von zwei Frauen, die ihre Schleppe trugen. Sie war nicht lang, aber trotzdem. Und ich hatte Recht gehabt! Rachel war wunderschön! Und ihr Kleid erst!
Es war aus seidigem, champagnerfarbenem Stoff geschnitten und betonte jedes Detail ihres Körpers. Außerdem passte es genau zum Ton ihrer dunklen Haut. Es war verziert mit kleinen Stickereien und Blumenmustern aus bläulichen und grünlichen Perlen. Unter ihrem Schleier erkannte ich ein sehr freundlich aussehendes Gesicht und ein breites Lächeln. Rachel genoss diesen Tag, das sah man ihr an. Sie lächelte allerdings nur einen an: ihren Fast-Ehemann. Paul stand vor dem Altar und sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Ich vermutete eine Mischung aus überwältigender Überraschung und tiefer Freude. Auch er schaute nur auf Rachel.
Am Altar angekommen, übergab Billy Paul Rachels Hand ganz obligatorisch und setzte sich in die erste Reihe, genau wie eine von Rachels zwei Brautjungfern.

Die Zeremonie verlief relativ normal. Es wurde aber ab und zu ein Stück indianischer Musik gespielt und alle Einheimischen sangen mit. Ich war auch sehr fasziniert von dem Liebesgeständnis des Bräutigams, dass er erst in der alten Stammessprache und dann in Englisch ablegte. Ich hatte, so wie Rachel und die meisten der anderen auch Gäste, Tränen in den Augen, genau wie an der Stelle, wo die beiden sich das Jawort gaben. Ich schaffte es, meine Tränen in meinen Augen zu behalten, aber Angela neben mir kramte ihre Taschentücher aus der Handtasche. Auch die Worte, die Mr Black seiner Tochter und ihrem Ehemann mit auf den Weg gab, waren herzergreifend. Er wünschte ihnen einmal als Vater und einmal als Stammesführer alles Gute, viel Liebe, Gesundheit und Hoffnung für die Zukunft.
Nach den letzten Worten durch Mr Black wurde die Feier offiziell begonnen. Alle standen auf und gratulierten dem jungen Paar. Die beiden waren sehr freundlich zu mir und nur am grinsen. Es ging mir bei ihnen genau wie bei Angela und Ben: Wenn sie lächelten, konnte ich auch nicht anders. Sie waren wie für einander bestimmt und ich nahm an, sie dachten genauso.
Nach dem nicht enden wollenden Empfang warf Rachel, ganz traditionell, ihren Brautstrauß in die Menge. Eine junge Frau fing ihn und wurde gleich darauf von ihrem Freund in die Arme genommen und geküsst. Er war sehr groß, also nahm ich an, dass es auch einer der Jungen aus La Push war.
Dann trug Paul Rachel zu den Pavillons, wo sie gemeinsam die Torte anschnitten. Sie war weiß mit vielen kleinen Verzierungen und obendrauf standen zwei Brautleute. Angela, Ben und ich gehörten zu den letzten, die sich von der Torte nahmen. Mein Stück sah ziemlich lecker aus. Helle Böden, Schokoladencreme und obendrauf ein sandfarbener Marzipan-Wolf.
„Wo setzten wir uns hin?“, fragte ich Ben.
„Wie wär’s da drüben?“ Er zeigte auf die Tischreihe links außen. Am vorderen Ende saßen bereits einige Gäste, an den Tischen in der Mitte hatten sich die Familie und engsten Freunde des Brautpaares versammelt; rechts saßen überwiegend Einheimische.
„Okay.“ Angela und ich folgten Ben, der bereits auf die Tische zulief. Ich ging durch den schmalen Gang zwischen der äußeren und der mittleren Reihe. In der Mitte saßen noch mehr riesige Jungen. Ich schätzte 15. Das konnte doch nicht normal sein ...
Ungefähr auf der Höhe, wo ich Platz nahm, saß auch Leah. Als sie mich sah, strahlte sie aus einem mir unerfindlichen Grund zu mir hinüber.
„Hey, Amy!“ Sie sprach mich so an, als ob wir uns schon Jahre kennen würden.
„Hi, Leah.“ Ich setzte mich mit dem Rücken zu ihr und wollte anfangen zu essen.
Hinter mir hörte ich Leah mit jemandem sprechen.
„Willst du sie nicht mal begrüßen?!“
„Wozu sollte ich? Leah, lass mich in Frieden, okay?! Ich hab keinen Nerv, mich auch noch um wildfremde Gäste zu kümmern!“
„Komm schon, Seth! Tu’s für mich!“
„Vergess es!“
„Schau sie dir doch wenigstens mal an!“
„Mum wird sauer sein, wenn ich dich umbringe und ich hatte eigentlich nicht vor, Rachel und Paul den Abend zu versauen, also hör jetzt bitte damit auf, mir vorzuschreiben, wen ich kennenlernen soll und wen nicht!“
Oha. Da war jemand ganz schön genervt und mies gelaunt. Wegen mir? Das es bei dem Gespräche zwischen Leah und dem Jungen um mich gegangen war, bezweifelte ich kaum, aber ich konnte ja wohl nicht der Grund sein, warum er so mies drauf war. Oder?
„Ich meins ja nur gut … aber bitte! Dann spiel halt weiterhin den bedauernswerten Einsamen!“
„Bedauernswert?! Es reicht! Ehrlich! Ich verlange von niemandem, bedauert zu werden!“
„So sieht’s für mich aber aus …“
„Leute, Leute! Ganz ruhig! Euch ist schon klar, dass Rachel und Paul keine Familientragödie an diesem Tag haben wollen, oder? Jetzt hört einfach mal auf zu streiten. Das könnt ihr morgen wieder machen.“ Diese Stimme hatte ich auch schon kennengelernt. Es war der Größte: Sam.
„Leah hat angefangen!“
„Ganz egal, wer angefangen hat, ihr beide benehmt euch!“
Auf diesen Befehl hin hörte ich Leah einen verärgerten Seufzer ausstoßen. Der andere Junge schwieg.
Ben und Angela hatten von der Auseinandersetzung am Nachbartisch offensichtlich nichts mitbekommen; sie unterhielten sich und aßen ihre Torte, so wie die anderen Gäste auch.
Auch ich begann zu essen und überlegte weiter, warum der Junge so schlecht drauf sein konnte. Es war ja die Hochzeit eines Freundes, wie ich annahm. Wollte er etwa keine Fremden dabei haben? Das kam mir wirklich ziemlich unfreundlich vor. Und was sollte das mit dem ‚bedauernswerten Einsamen‘? Was hatte das damit zu tun, mich zu begrüßen? Leah wollte mich doch nicht verkuppeln, oder? Sie kannte mich ja noch nicht mal richtig!
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als am Nachbartisch plötzlich einer der allergrößten Jungen überhaupt aufstand. Er ließ seine Gabel fallen, lief quer über die Wiese und verschwand hinter den Pavillons. Keine zehn Sekunden später tauchte er wieder auf und hatte ein kleines Mädchen auf dem Arm. Als sie näher kamen, sah ich das Gesicht der Kleinen. Sie sah unheimlich hübsch aus. Ihre bronzefarbenen Locken fielen ihr um das Gesicht und ihre wunderschönen, braunen Augen strahlten den Jungen an. Ihre Haut sah neben seiner dunklen noch heller aus und ihr Lächeln – ja, das brachte auch mich zum Lächeln.
„Renesmee“, hörte ich Angela flüstern. Ich drehte den Kopf zu ihr und sah, dass sie das kleine Mädchen auch anlächelte, genau wie der Großteil unseres Tisches.
Jetzt erschienen noch mehr Gäste in der Abenddämmerung. Acht. Vier Frauen und vier Männer. Alle trugen wunderschöne Kleider und Smokings. Ihre Gesichter hätten verschiedener nicht sein können, aber trotzdem sahen sie sich alle sehr ähnlich. Sie besaßen alle eine gemeinsame Eigenschaft: Eine übernatürliche Schönheit. Selbst aus der Entfernung erkannte ich, dass sie die schönsten Menschen sein mussten, die ich je gesehen hatte.
Sie kamen näher und Rachel und Paul standen auf um sie zu begrüßen.
„Das sind die Cullens“, murmelte Angela mir über den Tisch hinweg zu. Ich schaute kurz zu ihr und dann wieder zu den Neuankömmlingen. Die Acht gratulierten dem Brautpaar erst ganz herzlich und machten sich dann auf den Weg zu unserem Tisch. Ich stellte fest, dass nur noch die Plätze am hinteren Ende unserer Reihe frei waren. Diese Schönheiten würden direkt neben mir sitzen.
„Hallo Angela! Hey, Ben!“ Eine junge Frau mit langen, braunen Haaren war die erste, die zu uns kam. Sie trug ein helles Designerkleid und hatte wunderschöne, honigfarbene Augen. Ihre Figur und ihr Auftreten wirkten perfekt und selbstbewusst.
„Bella! Schön dich mal wiederzusehen!“ Angela war aufgestanden um ihre alte Freundin zu umarmen.
„Guten Abend, Miss Weber, Mr Cheney.“
„Oh. Guten Abend, Dr. Cullen.“ Auch Ben stand auf, um einem der Cullens die Hand zu schütteln. Dieses Mal war es ein jung aussehender Mann mit hellblonden Haaren, den ich persönlich eher auf einer Kinoleinwand erwartet hätte, als auf einer Hochzeit in einer Kleinstadt. Auch er hatte goldfarbene Augen und blasse Haut, genau wie die restlichen Cullens, die jetzt näher kamen um die Gäste zu begrüßen. Auch ich wurde wieder vorgestellt.
„Bella, Dr. Cullen, darf ich ihnen meine Cousine vorstellen?“ Angela schaute mich an und bedeutete mir aufzustehen. Ich erhob mich und streckte meine Hand über den Tisch zu dem blonden Mann.
„Amy Westwood.“
„Schön dich kennenzulernen, Amy. Ich bin Dr. Cullen, aber du darfst auch Carlisle sagen.“ Er lächelte mich an und nahm meine Hand. Bei dieser Berührung hätte ich meine Hand fast wieder weggezogen, genau wie vorhin bei Leah. Aber diesmal aus dem genauen Gegenteil. Dr. Cullens Hand war nicht heiß – sie war eiskalt! Aber auch er ließ sich davon nicht beirren und redete freundlich weiter.
„Das sind meine Gattin, Esme, meine Adoptivkinder Emmett und Rosalie, Jasper und Alice, Edward und seine Frau Bella. Nein, warte – wo ist Edward?“ Ich versuchte mir zu merken, wer wer war. Emmett war der Große, der gefährlich Aussehende mit dem kindlichen Lächeln. Eine sonderbare Mischung. Die Frau neben ihm – wow. Schöner als die schönsten Topmodels! Ich fragte mich, ob Rosalie vielleicht wirklich Model war. Mit ihrer Figur, ihrem Gesicht, ihrer Ausstrahlung. Sie sah aus wie ein Engel, mit ihren blonden Haaren. Ich ließ meinen Blick weiter wandern. Jasper. Noch so ein Schönling. Seine hellen, blonden Haare hingen wirr von seinem Kopf, sodass sie genau zu denen der kleinen Schwarzhaarigen passten, deren Hand er hielt. Das musste Alice sein. Die beiden passten wirklich hervorragend zusammen. Die Frau neben Carlisle war demzufolge Esme. Und Bella hatte ich ja sowieso schon erkannt, dank Angela. Aber wer war Edward? Oder eher: Wo war Edward?
Bella antwortete Carlisle. „Er wollte nur sichergehen, dass Nessie bei Jake sicher ist.“ Sie lächelte ein wunderschönes Lächeln und Carlisle fing an zu lachen.
„Hätt ich mir ja denken können!“
Die sieben nahmen neben uns Platz. Rechts von mir saß Alice, ihr gegenüber Bella. Die unterhielt sich schon angeregt mit Angela. Sie wollte wissen, wie es auf dem College so lief und was sie in der nächsten Zeit so vorhatte. Angela fragte Bella, was sie so getrieben hatte, wie es war, mit Edward verheiratet zu sein und was Renesmee für Fortschritte machte.
Alice neben mir betrachtete erst mal mindestens fünf Minuten die gesamte Festausstattung und das ganze Drumherum. Schließlich murmelte sie Jasper zu, dass sie das selbst vermutlich nicht besser hinbekommen hätte.
Und dann tauchte Edward auf. Er war mindestens genauso schön, wie seine Frau. Er hatte das gleiche bronzefarbene Haar, wie Renesmee und die gleiche Haut und Augen wie der Rest seiner Familie. Er nahm auf dem Stuhl Platz, den Bella zwischen sich und Emmett freigehalten hatte und lächelte seine Frau an.
„Und?“
„Ihr geht’s gut.“
„Hab ich dir doch gesagt. Jake kümmert sich besser um sie, als irgendjemand anders.“
„Ausgenommen von uns.“
Bella lächelte ihn an, dann wollte sie mir Edward vorstellen. Der lächelte jetzt auch mich an und ich stellte mich wieder brav vor. Danach gingen wir zur nächsten Runde Smalltalk über.

Eine gute halbe Stunde später sah ich Alice gedankenverloren aufs Meer blicken, wo die Sonne schon so tief stand, dass ihr Licht kaum noch zu uns drang. Dann drehte Alice ihren Kopf zu mir und musterte mich.
„Kennst du einen der Jungen aus La Push näher?“
Ihre Frage kam so plötzlich, dass ich erst mal begreifen musste, dass sie mich meinte.
„Ähm, eigentlich nicht, warum?“
„Hmm … nur so.“ Dann schaute sie Edward kurz an und ließ mich verwirrt zurück. Wollten mich heute alle mit ihrer Geheimniskrämerei und ihren verwirrenden Bemerkungen ärgern? Das konnte es ja wohl nicht sein! Aber ich schaffte es nicht lange, auf Alice böse zu sein. Ich kannte sie zwar kaum, aber in den Gesprächen, die wir geführt hatten, war sie mir sehr sympathisch geworden. Sie schien der kleine Sonnenschein der Cullens zu sein, die Immer-Fröhliche. Man musste sie einfach gern haben.
Dann erhoben sich Paul und Rachel wieder von ihren Plätzen ganz vorne am Mitteltisch.
„Liebe Familie, liebe Freunde und Gäste. Ihr wisst alle, dass ich kein großer Redner bin und wenn Rachel anfangen würde, eine Rede zu halten, dann würdet ihr uns noch verhungern.“ Ein leises Kichern und Gemurmel ging durch die Menge. „Und da wir das nicht wollen, erklären wir jetzt ganz schlicht und einfach das Buffet für eröffnet und bedanken uns bei allen noch einmal herzlichst fürs Kommen.“
„Und bei Emily, Sue und all den anderen fürs Kochen! Ohne euch wäre das alles nicht möglich gewesen!“ Rachel lächelte einer jungen Frau zu, deren Gesicht in der Dämmerung noch entstellter wirkte, als vorhin bei der Trauung. Durch das Gesicht von Rachels Trauzeugin verliefen mehrere große Narben, die jetzt Schatten warfen. Doch ich sah sie lächeln. Sie war glücklich.
Rachel und Paul gingen Hand in Hand zu den Pavillons, in denen das Essen angerichtet war. Nach und nach standen immer mehr Gäste auf, um sich das Abendessen zu holen.
„Wollen wir?“, fragte Angela mich über den Tisch hinweg.
Ich nickte und blickte fragend zu Alice.
„Wir haben am Flughafen erst gegessen. Nessie wäre uns fast verhungert.“ Alice lächelte mich an. Sie hatte mir erzählt, dass sie vorhin erst von Bekannten aus Alaska wiedergekommen waren. Das war auch der Grund gewesen, weshalb sie so spät gekommen waren.
Angela und Ben standen auf. Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte es ihnen nachtun. Ich drehte mich und prallte plötzlich gegen etwas Hartes und Heißes.
„Sag mal, kannst du nicht aufpassen?!“ Das war der Junge, den Leah vorhin hatte dazu drängen wollte, mich kennenzulernen. Sehr unhöflich, hatte ich mir ja schon gedacht.
„Tschuldigung“, murmelte ich, dann schaute ich hoch.
Und dafür gab es keine Worte. Er schaute mich an und von einem Moment auf den anderen wechselte sein Gesichtsausdruck. Und dann nochmal. Seine dunklen Augen musterten mich, als hätte er noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
Ich … ja, was genau tat ich eigentlich? Ich schaute ihm auch in die Augen. Ich betrachtete sein wunderschönes Gesicht, dass auf eine andere Weise schön war, anders als die Gesichter der Cullens. Seine schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so dastanden. Die Zeit schien in diesem Moment still zu stehen.
Keiner von uns beiden sagte ein Wort. Als er mich nach einer weiteren Ewigkeit immer noch so komisch anstarrte, aber nichts sagte, entschied ich mich dazu, erst mal wegzugehen. Keine Ahnung warum. Vielleicht, weil es mir einfach zu blöd vorkam, darumzustehen, vielleicht kam mir auch einfach wieder in den Sinn, dass ziemlich viele Menschen um uns herumsaßen.
Ich drehte mich und wollte an ihm vorbeigehen.
„Hey, warte!“ Er nahm meinen Arm und hielt mich fest. Bei der Berührung seiner heißen Hand fing ich an zu zittern. Seine Stimme klang seltsam erregt und erwartungsvoll.
„Was?“ Ich drehte ihm wieder den Kopf zu und schaute in diese Augen. Ich hatte das Gefühl, den Halt zu verlieren.
„Kann ich … Würdest du … Würdest du vielleicht mal kurz mitkommen?“ Jetzt klang er nervös. Sehr nervös.
„Ähm ... okay …“ Ich hatte absolut keine Ahnung, was er wollte oder warum ich mitging. Vielleicht, weil ich immer noch vom Blick dieser Augen gefesselt war. Ich weiß es nicht.
Er zog mich in die genau entgegengesetzte Richtung, weg von dem Fest und dem Essen, hin zum Meer. Er schaute mich die ganze Zeit an. Und ich ihn. Mein Magen schien gefüllt zu sein mit den Schmetterlingen, von denen immer alle sprachen. Aber das konnte ja wohl nicht sein. Ich konnte mich ja nicht von einer Sekunde auf die andere in einen Jungen verlieben, den ich gar nicht kannte und der mich am liebsten nie getroffen hätte. Oder doch?
Er hielt immer noch meine Hand, als wir bei einem Baum am Klippenrand ankamen. Er ließ sie los und setzte sich ins Gras. Ich folgte seinem Beispiel und setzte mich ihm gegenüber.
Ich sah ihn fragend an.
„Ähm … Ja ... Hi ...“Er brachte ein Lächeln zustande, bei dem mein Herz urplötzlich anfing zu rasen. Noch schneller als zuvor.
„Hi“ Er hatte mich hergebeten, er sollte mir sagen, was er wollte.
„Ich bin Seth. Ähm. Du bist Amy, oder?“ Er war so nervös, ich konnte es fast spüren.
Ich nickte und schaute ihn wieder an.
„Ja …“ Na das konnte ja ein interessantes Gespräch werden! Er hatte offensichtlich keine Ahnung, worüber er mit mir reden könnte und ich hatte noch nicht mal eine Ahnung, was er überhaupt wollte.
„Weißt du, ich bin Leahs Bruder. Du hast sie ja schon kennengelernt, richtig?“
„Ja. Sie hat mich rumgeführt und mir viele Leute vorgestellt. Sie ist echt nett.“
„Du findest Leah NETT?? Ehrlich??“ Er fing an zu lachen. Was für ein Lachen.
„Ja, find ich schon. Warum? Ist sie sonst nicht so?“ Hatte die indianische Schönheit mir etwa etwas vorgemacht?
„Nun ja, Leah ist ein Fall für sich. Manchmal ist sie ziemlich nerv tötend, frag die Anderen! Aber sie ist meine Schwester, ich hab mich da ein ganzes Leben lang dran gewöhnt!“ Er ging von diesem wunderschönen Lachen wieder zurück zu seinem herzzerreißenden Lächeln. Ich lächelte mit ihm und wurde mir jetzt erst bewusst, dass sich auch meine Haut ziemlich heiß anfühlte. Ich musste so rot sein, wie eine Tomate! Eine sehr peinliche Vorstellung für mich, aber Seth schien das nichts auszumachen.
„Hast du auch Geschwister?“
„Einen Bruder. Tyler ist elf. Er kann ziemlich nerven, aber ich liebe ihn trotzdem.“
Er schaute mich immer noch an. Ich glaubte, er hatte nicht weggesehen, seid ich gegen ihn gelaufen war.
„Ich hab eine Sympathie für kleine Brüder.“ Wieder fingen wir beide an zu lachen.
Langsam kam unser Gespräch in Gang. Seth erzählte viel. Sehr viel. Von seinen Freunden und seiner Familie. Er tat mir ziemlich leid, als er mir erzählte, dass sein Vater im letzten Frühjahr gestorben war. Er meinte zwar, er wäre damit fertig geworden, aber ich sah, dass die Trauer seinen Gesichtsausdruck immer noch verzerrte.
Dann erzählte er mir von Paul und Rachel und, dass die Gemeinschaft im Ort ziemlich eng war. Alle gehörten sozusagen zu einer Familie. Ich fragte ihn, ob er mir das vielleicht näher erklären könnte.
„Wie lange bleibst du noch in Forks?“
Ich war leicht irritiert von seiner unpassenden Frage. „Den ganzen Sommer lang.“
Dann sah ich seine Augen aufleuchten. „Hättest du morgen Zeit? Es ist alle etwas … kompliziert und sehr, sehr merkwürdig.“
Wieder beschleunigte mein Puls. Morgen? Er wollte mich wiedersehen? Ich versuchte lässig zu lächeln.
„Morgen ist cool.“
Auch Seth schien sich darüber sehr zu freuen. „Find ich gut.“
Wieder grinsten wir uns eine Weile schweigend an. Hinter uns hörte man die Musik. Die meisten waren schon mit dem Essen fertig, die Party hatte begonnen. Seth und ich, wir saßen abseits unter unserem Baum und schauten abwechselnd aufs Meer und dem anderen in die Augen. Die Sonne war kurz davor unterzugehen. Wir hatten uns inzwischen aneinander gelehnt, mit dem Rücken zum Fest. Seine Haut war selbst durch den Smoking ziemlich warm. Seth war genauso groß, wie die anderen. Auch das musste er mir morgen erklären. Morgen … Mein Lächeln wurde noch breiter.
Dieser Sonnenuntergang war fast zu wunderschön um wahr zu sein. Die Sonne verließ uns mit einem Rausch aus sich spiegelnden Farben und bunten Wellen, die sich an den Klippen unter uns brachen. Nachdem auch ihre oberste Kante im Meer verschwunden war, drehte sich Seth leicht zur Seite. Ich hob meinen Kopf, den ich auf seine Schulter gelegt hatte. Ich mochte ihn wirklich. Mehr, als ich je jemand anderen gemocht hatte. Es war unbeschreiblich.
Und dann war da noch dieses Gefühl, dass es ihm nicht viel anders ging als mir. Sein liebevoller Blick machte es mir immer und immer wieder deutlich. War das wirklich alles wahr? Konnte das wirklich sein?
Seth schaute mir wieder in die Augen. Und ich lächelte wieder. Er nahm mein Gesicht sanft in seine Hände und beugte sich zu mir. Ich schloss die Augen und spürte seinen heißen Atem auf meiner Haut. Dann berührten seine Lippen meine und mein Herz blieb stehen. Mir war heiß und kalt zugleich. Die Schmetterlinge flogen noch wilder durcheinander.
Unser Kuss wollte und wollte nicht enden. Keiner von uns wollte aufhören. Es war, als hätte ich mein ganzes Leben lang nur auf ihn gewartet. Auf diesen Moment. Es war vollkommen. Er war es. Mir wurde klar, dass es Liebe sein musste. Auch wenn wir uns kaum kannten. Ich wollte nie wieder ohne ihn sein. Seth gehörte zu mir, da war ich mir sicher. Genauso sicher, wie bei Angela und Ben. Bei Rachel und Paul. Bei Bella und Edward.

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